Gustav Ludwig Weigand an Hugo Schuchardt (06-12705)
an Hugo Schuchardt
01. 01. 1900
Deutsch
Schlagwörter: Universität Czernowitz Slawische Sprachen
Deutsch
Dalmatisch
Italienisch
Ladinisch
Albanisch
Rumänisch Gartner, Theodor Bartoli, Matteo Ive, Antonio Rumänien Bartoli, Matteo (1899)
Zitiervorschlag: Gustav Ludwig Weigand an Hugo Schuchardt (06-12705). Leipzig, 01. 01. 1900. Hrsg. von Luca Melchior (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9418, abgerufen am 25. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9418.
Leipzig, 1. Jan. 1900
Hochverehrter Herr Professor!
Im kleinen, aber fröhlichen Kreise in einer Weinkneipe ku tuto mulárea mea habe ich das „offiziell“ neue Jahrhundert angetreten. Wenn nun auch keine rechte Arbeitsstimmung vorhanden ist, so habe ich doch Lust zum Briefschreiben, und an Sie dachte ich in erster Linie. Einmal um Ihnen meine herzlichsten Glückwünsche zum Wechsel des Jahrhunderts darzubringen, dann aber auch um zwei Briefe von Ihnen zu beantworten. Denken Sie, die rum. Post hat mir jetzt nach vier Monaten Ihren Brief vom 11. Sept. nachgeschickt, man muß doch Respekt davor haben, umso mehr als es im Lande recht wenig Respekt einflößende Institutionen giebt, doch das „entre nous“.
Bezüglich der Spindel habe ich Ihnen schon mitgeteilt, daß ich im nächsten Jahre mein Augenmerk darauf richten werde. Woher Sie die Form răciucială |2| haben, weiß ich nicht. Ich kenne nur răsucială von răsucesc1 sukali2 und auch sucală3 , das direkt auf slav. sukalo beruht. Vielleicht haben Sie im Banat rośuśalo mit Assimilation von s zu ś gehört (ähnlich źeźet aus deget) und daraus răciucială construiert, was ja auch ganz correct wäre. Mir ist aber die Form răciucială gänzlich unbekannt.
Es ist schwer wirklich zuverlässige Leute in Rumänien zu finden, aber doch kann ich Ihnen die folgenden Herren, die auch gut Deutsch können, empfehlen: Dr. Măgeţ, profesor in Turnu Severin, Paşcan, profesor in Rîmnicu-Vâlcea, Dr. Lacea4 , profesor in Kronstadt, Dr. Mehedinţi, profesor in Iaşi, Dr. * Iorga, profesor universitar in Bucarest.
Auch ich habe wie Sie die Erfahrung gemacht, daß die Rumänen gar bald kühl, wenn nicht gar feindlich werden, wenn man die Continuität in Zweifel
* Şapcaliu 5, profesor in Câmpulung6 ganz besonders empfohlen.
|3|zieht. Wegen eines Artikels (Aromâni)7 in der Enciclopedia română8 , deren Mitarbeiter ich bin, bin ich aufs heftigste angegriffen worden. Während ich auf meiner Banater Reise überall von Deputationen festlich empfangen wurde, zieht man sich jetzt geflissentlich von mir zurück, wenn ich nach Siebenbürgen komme.9 Die Zahl der vernünftig denkenden und objektiv arbeitenden Rumänen ist eben noch gar zu klein. Ich glaube, wenn ich jetzt frei heraus meine Meinung über die Abstammung der Rum. bekennen würde, so würde man mir das Institut eingehen lassen und ich säße auf dem Trocknen, da ich gänzlich ohne Vermögen bin.10 Dieser Gedanke ist für mich sehr peinlich, und ich muß sehen, bald eine gesicherte Lebensstellung zu erhalten, schon meiner Familie wegen. Czernowitz ist durch Gartners Wegberufung frei geworden, und Sbiera11 ist |4| alt, ich würde recht gut die Posten beider vereinigen können, weiß aber nicht, an wen ich mich dieserhalb mit einem Vorschlag wenden könnte. Die Initiative darf ja auch nicht von mir ausgehen. Haben Sie vielleicht Beziehung zur Wiener Regierung?
Dr. Bartoli hat mir seinen, leider nur zu kurzen Bericht geschickt. Seine gesammelten Texte wären mir lieber gewesen, hoffentlich folgt seine „endgiltige“ p. 77.12 Arbeit bald. Ich verstehe nicht, wie er das Dalm. als italienischen Dialekt erklären will. Der ganze Habitus ist doch derart, daß man es ebensogut wie Ital. oder Lad. als selbständig bezeichnen muß, vor allem wegen Erhaltung der Gutturalen, worüber B. falsche Meinung hat. Der Uebergang von kī > tsi ist nicht gleichzusetzen der gemeinromanischen Palatalisierung, sondern eine verhältnismäßig späte Veränderung, die erst eintrat als u zu ü zu i geworden war, dann |5| erst wurde das bis dahin erhaltene kī1 und kī2 zu tši, tsi. Auch die lat. El. des Alban. sind mit zu verwerten, denn sie stammen doch aus dem Urdalmatinischen.13
Einige grobe Versehen sind Herrn B. S. 88 Anm. untergelaufen, wo er „amo per hominem, domnule und anderes als spez. rum. Charakteristika anführt 14, während es doch ganz moderne, nur dacorum. Erscheinungen sind, die ganz weg zu bleiben haben. Es ist überhaupt ein Fehler des Herrn B. bei seinen Vergleichen den jetzigen Zustand der Sprache, statt die früheste Phase im Auge zu behalten. Aber immerhin bin ich sehr erfreut in B. einen Mitarbeiter gefunden zu haben, der auf einem mit dem Rumänischen aufs allerengste verbundenen Arbeitsfelde thätig ist. Ich werde ihm dieser Tage eingehender schreiben. Auch auf Ives Arbeit bin ich sehr gespannt, geben Sie ihm doch das |6| Ex. der Dialekte der Kleinen Walachei, das ich Ihnen doppelt gesandt habe.
Ihre Meinung, daß die Lautgesetze durchaus nicht immer in erste Linie zu stellen sind, stimmt ganz mit meinen Erfahrungen überein. Ich habe nie für ausnahmslose Lautgesetze geschwärmt, seitdem ich aber durch meine eingehenden Dialektstudien auf rum. Gebiete zu intimeren Eindringen ins Sprachleben gelangt bin, habe ich meine früheren Ansichten ganz wesentlich ändern müssen. Kein Zweifel, daß auch die begriffliche Zusammengehörigkeit auf die Lautgestalt einen ganz bedeutenden Einfluß ausübt. Ich gedenke in Anschluß an meinen Atlas auf diese theoretischen Erörterungen später näher eingehen zu können, ich habe dann ein gutes Material um ad oculos demonstrieren zu können.
Hr. Krause15 ist mir Luft, ich habe ihn einmal gekränkt durch Abweisung eines Abonnements auf den Urquell16 , das trägt er mir nach. Auch ist er ein großer Magyarenfreund, was ich von mir nicht behaupten kann, ihre Brutalität stößt mich ab. 17
Mit hochachtungsvollem Gruße
Ihr
G. Weigand
1 Vgl. DEX (892) , s.v. „răsuceală“: „s.f. Răsucire; p.ext. rezultatul răsucirii. – Răsuci + suf. -eală“
2 Nachträglich eingefügt.
3 Vgl. DEX (1036), s.v. „sucálă“: „s.f. Unealtă cu ajutorul căreia se deapănă pe ţevi firul pentru războiul de ţesut manual […] – Din bg., scr. sukalo“.
4 Wahrscheinlich Constantin Lacea (1875-1950), Philologe und Sprachwissenschaftler.
5 Gheorghe Şapcaliu (1867-1941), rumänischer Gelehrter.
6 Nachträglich eingefügt.
7 Nachträglich eingefügt.
8 Weigand (1898).
9 Gegen Weigands eigene Darstellung meint Popa (1996:58) , dass „die rumänische Bevölkerung Siebenbürgens mit ihrem Verhalten Weigand gegenüber [bewies], daß sie dessen ehrenhafte Tätigkeit wohl zu schätzen wußte, und in allen Gegenden, in die der deutsche Gelehrte kam, übertrafen die Rumänen mit ihrer sprichwörtlichen Gastfreundschaft sich selbst“.
10 Zur finanziellen Abhängigkeit des rumänischen Instituts von Rumänien, das nationalistisch bedingt eine starke Hinwendung zur Latinität zeigte, und zur daraus folgenden Unmöglichkeit, das Institut zu einem Balkaninstitut zu machen, wie Weigand es gewünscht hätte, vgl. Dahmen / Kramer (1996:65f.) sowie unten.
11 Ion Gheorghe Sbiera (1836-1916), Folklorist, Philologe und Historiker, seit 1875 Privatdozent für rumänische Sprache und Literatur an der Universität Czernowitz, ab 1881 ordentlicher Professor, 1907 emeritiert.
12 Anspielung an Bartolis Formulierung in seinem Bericht „Über eine Studienreise zur Erforschung des Altromanischen Dalmatiens“ (Bartoli 1899), in dem man liest: „Ich transkribiere mit z den tonlosen Zischlaut, des italienischen pigrizia, mit ź den stimmhaften, pranźo. Mit ṣ das tonlose ‚venetianische‘ s (zwischen š und s); mit ś das stimmhafte italienisch, rośa. Mit ẓ ein zwischen z und s (tonloses) z. Darüber näher in der endgiltigen Arbeit“ (Bartoli 1899:77, FN1).
13 Vgl. Bartoli (1899:77f.).
14 Vgl. Bartoli (1899:88f.): „Diese Andeutung, die ich erst jetzt gewagt habe (dass nämlich das Dalmatische eine italienische Mundart sei), wird vielleicht als kühn betrachtet werden. Sie ist es, insofern man heute den Begriff ‚italienisch‘ im Gegensatze zum Begriff ‚rumänisch‘ etc. noch immer nicht präcisiert hat. Immerhin kann ich vielleicht und muss schon an dieser Stelle die Meinung ausdrücken, es sei wenigstens das uns heute in einer organischen Gestalt vorliegende Dalmatische (d. h. das Vegliotische, wenn auch nicht die süddalmatischen Bruchstücke) eine italienische und nicht eine rumänische oder eine albano-romanische Mundart: und zwar aus dem Grunde, weil im Vegliotischen etwa folgende rumänische und albanische Merkmale fehlen und durch gemeinitalienische vertreten sind: homo ille, amo per hominem, illui Antoniu, casae dat., domnule voc. (caso voc), cantavissem = hatte gesungen, bonu de cantatu, unus supra decem, sută = 100, auch -â-; rn = n; nt ns = mt ms; qua gua = pa ba, stella = steáoa, adv. auf -esce; ausser den auch im Südostital. vorkommenden: volo ut cantem; nc nt mp = ng, nd, mh, mia = betont mihi me u.ä“.
15 Eigentlich Friedrich S. Krauss (1859-1938), österreichischer Ethnologe, Folklorist und Slawist.
16 Der Urquell. Monatsschrift für Volkskunde , herausgegeben von Friedrich S. Krauss in den Jahren 1897-1898 und davor (1890-1897) unter dem Namen Am Ur-Quell.
17 Die Schwierigkeiten Weigands mit den Ungarn werden auch in einem auf 16.1.1899 datierten Brief von Schuchardt an Baudouin de Courtenay an thematisiert: „Dass Sie in Ungarn als Agitator betrachtet worden sind, wundert mich keineswegs. Gustav Weigand ist es bei seinen rumänischen Studienreisen in Südungarn ebenso ergangen […]“ (zit. nach Eismann / Hurch 2008:91 ).