Gustav Ludwig Weigand an Hugo Schuchardt (05-12704)

von Gustav Ludwig Weigand

an Hugo Schuchardt

Leipzig

02. 12. 1899

language Deutsch

Schlagwörter: Universitätsbibliothek Grazlanguage Balkanromanischlanguage Aromunisch Leskien, August Richter, Elise (1929) Eichler, Ernst/Schröter, Gerhart (1986) Byhan, Arthur (1899) Weigand, Gustav (1899) Schuchardt, Hugo (1899)

Zitiervorschlag: Gustav Ludwig Weigand an Hugo Schuchardt (05-12704). Leipzig, 02. 12. 1899. Hrsg. von Luca Melchior (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9417, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9417.


|1|

Leipzig, 2. Dez. 99

Hochgeehrter Herr College!

Eine Quetschung des kleinen Fingers an der rechten Hand hat mich seither gehindert, meine Correspondenz in gewohnter Weise schnell zu erledigen, auch jetzt habe ich durch eine dazugekommene Eiterung zu leiden, aber es geht doch einigermaßen. Sie wundern sich daß Spindel mit und ohne Wirtel an einem und demselben Orte vorkommen. Das erklärt sich, soviel ich weiß, durch die verschiedene Anwendung derselben. Die Spindel mit Wirtel hat infolge des größeren Durchmessers der Scheibe eine viel größere Kraft, als eine solche mit einfachem Wulst, sie wird daher mehr bei gröberer Wolle |2| etwa von Ziegen und bei Flachs angewandt, die andere mehr bei Baumwolle und Schafwolle, wenn es sich um einen feinen Faden handelt. Nächstes Jahr werde ich mehr Acht darauf haben.

Was rece - *ricidus resp. recoare aus rigor betrifft, so kann ich daran nicht glauben. Ich meine vielmehr, daß man, allerdings schon früh im Balkanromanischen, parallel oder wenn man lieber will gegensätzlich zu calorem > căroare (das im Aromunischen (auch bei Kav. 200) und im Meglen sehr verbreitet ist) aus dem Stamme rec- ein entsprechendes Substantivum rec-ore gebildet hat.1 căroare ist soviel ich weiß im D.-R. durch căldură verdrängt, im Ar. bestehen beide Wörter neben einander. Ich glaube, daß meine Erklärung einfacher ist, als |3| wenn man die bei der Ihrigen nötige Bedeutungsveränderung und Verhärtung vornimmt. Verhärtung kommt allerdings auch in lînced vor, aber lînged ist die häufigere Form, im Arom. lon dzid(t), mit stimmhaftem dz die einzig übliche.

Ich freue mich sehr darauf Sie im nächsten Semester hier zu sehen. Heute hörte ich von Leskien, daß Sie überhaupt beabsichtigen hierher überzusiedeln. Ist das richtig? 2

Ich sende Ihnen den VI. Jahresbericht, der das Glossar des Istrischen von Byhan3 enthält, und meine letzten Dialektstudien4 . Haben Sie schon meinen Atlas in Händen gehabt, von dem die II. Section soeben erschienen ist. Wenn es Sie interessiert und Sie etwa eine kurze Anzeige darüber bringen wollten, will |4| ich Ihnen denselben zuschicken lassen (etwa für das Centralblatt.)5

Wer zur Beurteilung Ihrer Arbeit (Fischerei etc.) competent wäre, weiß ich nicht. Ueber die Ethnographie der Balkanvölker habe ich gewöhnlich zu berichten, aber von Fischerei und Jagd verstehe ich nichts.6

Mit hochachtungsvollem Gruße

Ihr

G. Weigand


1 Die Form răcoare wird heutzutage allgemeinhin als Ableitung aus rece erklärt (vgl. Puşcariu 1905:129 s.v., Ciorănescu 2007:651 s.v., Vinereanu 2009:695 s.v.). Die Weigand’sche Deutung scheint dementsprechend die richtigere zu sein, wenn auch nicht möglich ist zu sagen, ob die Bildung răcoare analog zu căroare erfolgte.

2 Im Jahre 1900 wurde Schuchardt mit 58 Jahren emeritiert (vgl. Richter 1929:127). Die Pensionierung in diesem Jahr war – wie den noch unveröffentlichten Unterlagen zur Berufung Schuchardts zu entnehmen ist – Teil der Berufungszusage (persönliche Mitteilung von Bernhard Hurch). Aus einem Brief Leskiens vom 9. Oktober 1899 geht hervor, dass Schuchardt ihm gegenüber die Absicht geäußert hatte, nach der Pensionierung nach Leipzig zu gehen (vgl. die Edition von Eichler / Schröter 1986:95).

3 Byhan (1899).

4 Es handelt sich dabei womöglich um die Abhandlung zu den Theiss und Samosch-Dialekten ( Weigand 1899a ). Diese ist jedoch in der Universitätsbibliothek Graz nicht aufbewahrt, wohingegen dort mit Stempel der Hugo-Schuchardt-Bibliothek Die rumänischen Dialekte der Kleinen Walachei, Serbiens und Bulgariens vorliegen, welche jedoch erst im darauffolgenden Jahr in der siebten Ausgabe des Jahresberichts und als Sonderdruck erschienen (Weigand 1900a).

5 Es sind keine Schuchardt’schen Anzeigen des Atlasses bekannt.

6 Weigand bezieht sich auf Schuchardt (1899).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 12704)