Gustav Ludwig Weigand an Hugo Schuchardt (04-12703)

von Gustav Ludwig Weigand

an Hugo Schuchardt

Leipzig

27. 09. 1897

language Deutsch

Schlagwörter: language Ungarischlanguage Aromunischlanguage Meglenorumänischlanguage Istrorumänischlanguage Französischlanguage Rumänischlanguage Spanischlanguage Slawische Sprachenlanguage Latein Leipzig Schuchardt, Hugo (1897)

Zitiervorschlag: Gustav Ludwig Weigand an Hugo Schuchardt (04-12703). Leipzig, 27. 09. 1897. Hrsg. von Luca Melchior (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9416, abgerufen am 20. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9416.


|1|

Leipzig, 27. Sept. 1897

Hochverehrter Herr Kollege!

Ihren freundlichen Brief vom 11. Sept. fand ich jetzt erst bei meiner Rückkunft nach Leipzig vor, deshalb die Verspätung in seiner Beantwortung. Ich habe mich allerdings einige Zeit im ung. Flachland aufgehalten und zwar bis ich von Miskolcz über Tokaj, Nyiregyháza, Ér- Mihályfalva bis nach Margita geritten, also durch ungar. Sprachgebiet, einmal |2| um mich im Ungarischsprechen zu üben, dann aber auch um ung. Dörfer, Hausbau, Typus etc. kennen zu lernen.

Eine Form rânce[d kenne ich nicht, wenn sie wirklich dialektisch vorkommen sollte, scheint sie mir doch wenig geeignet, die Herleitung von rece √rigidus zu stützen angesichts der Uebereinstimmung sämtlicher Dialekte in der Behandlung von reces > dr. rece ar.aratse, meg.ratsiir.rotse, also überall Tenuis und keine Spur von einem d, dessen Abfall mir auch |3| sonst unbekannt ist. Dass auch einmal bei einem Adjektiv der Nom. das Etymon geliefert hat und nicht der cas. obl. ist doch nicht unerhört.1

vibicidus für vîlced würde dem Sinne nach vortrefflich passen, allein lautlich? 2Mir scheint ein slavischer Stamm mit lat. Suffix vorzuliegen.

Sollte Ihr Heimweg Sie über Leipzig führen, so würde ich mich außerordentlich freuen, Sie hier begrüßen zu können.

Mit hochachtungsvollem Gruße
Gustav Weigand

|4|

1 Weigand bezieht sich auf folgenden Passus in Schuchardt (1897:17-20): „Dass es sich nicht etwa um eine besondere Entwickelung der in ihren Ausgängen ganz gleichen Wertformen sapidus und tepidis handelt, das wird uns offenbar wenn wir die Schicksale der Endung -idus in den verschiedenen romanischen Mundarten verfolgen. W. Meyer(-Lübke) hat dies Ztschr. VIII, 206 ff. innerhalb eines weiteren Rahmens (,Die Behandlung tonloser Paenultima‘) mit grossem Fleiss und Scharfsinn gethan; über Manches ist er im Dunkeln geblieben oder hat wenigstens uns im Dunkeln gelassen, und seine Erklärungen sind nicht alle stichhaltig, vor Allem aber hat er die Ersetzung von -idus durch *-ius nicht festgestellt. Hierzu habe ich ebend. XV, 238 f. einige Bemerkungen gemacht in denen der Keim der folgenden Auseinandersetzungen zu erblicken ist. Auf engerem Gebiet hat jene Untersuchung fortgeführt Horning ‚Zur Behandlung der tonlosen Paenultima im Französischen‘ ebend. XV, 493 ff. (s. insbesondere S. 502 f., wo von der Thatsache ausgegangen wird dass ,in gewissen Mundarten tepidum zu tepio geworden ist‘; vgl. dazu desselben Artikel über franz.suie ebend. XIII, 323f.). Aber es bleibt noch viel zu thun, ehe wir Alles und zwar in voller Uebereinstimmung verstehen. Mir kommt es nur darauf an zu zeigen dass auch der Theil des romanischen Gebietes welcher, wenigstens zunächst, das d von -idus festhält (daraus kann dünn lautregelmässig -edo, -ed, -e werden), zahlreiche Fälle von *-ius für *-idus aufweist. Das Rumänische scheint gänzlich ausgenommen zu sein; das zweimalige rînce für rînced in dem Wörterbuch von A. Clemens (1837) ist auch in der dortigen Gegend (um Kronstadt, insb. zu Brenndorf) ganz unbekannt; rece ,kalt‘ ist wohl } rece(n)s+*ricidus (wegen des c } g vgl. einerseits rum. lînced } languidus, anderseits span.recio } rigidus; recoare ist rigor, nicht eine späte Bildung aus rece; die Glossen setzen riget dem friget gleich). Ich gebe zunächst eine Auswahl italienischer und ostladinischer Formen von beiden Kategorieen (siehe Seite 18 und 19)“.

2 Die Zweifel Weigands wurden von Schuchardt (1897:56) aufgegriffen – ohne jedoch dass er den Balkanologen erwähnte: „Meyer-Lübke Ztschr. VIII, 210 Anm. 1 will viscidus auch im rum. vîlced, ,striemig‘ (,lividus‘) wiederfinden was noch weniger angeht als viscidus { vincido; der Bedeutung nach wurde als Grundwort ein *vib(i)cidus von vibex, -īcis, ‚Strieme‘ befriedigen, aber lautlich vermag ich es auch nicht zu rechtfertigen“.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 12703)