Gustav Ludwig Weigand an Hugo Schuchardt (02-12701)
an Hugo Schuchardt
19. 05. 1886
Deutsch
Schlagwörter: Rumänisch Englisch Hasdeu, Bogdan Petriceicu Gartner, Theodor Miklosich, Franz von Gartner, Theodor (1883) Miklosich, Franz (1881) Miklosich, Franz (1882) Miklosich, Franz (1882) Miklosich, Franz (1882)
Zitiervorschlag: Gustav Ludwig Weigand an Hugo Schuchardt (02-12701). Leipzig, 19. 05. 1886. Hrsg. von Luca Melchior (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9414, abgerufen am 14. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9414.
Leipzig, den 19. Mai 1886
Hochgeehrter Herr Professor!
Empfangen Sie vor allem meinen herzlichsten Dank für Ihr gütiges Schreiben vom 6. März. Daß ich so lange mit der Antwort zögerte, hat seinen Grund darin, daß ich erst dann Mitteilungen machen wollte, wenn meine Arbeiten weiter vorgeschritten wären, die aber durch Examina, Conferenzen u. s. w. vor Ostern sehr aufgehalten wurden. Die Osterferien habe ich dagegen sehr ausgenutzt. Zunächst will ich Ihre Anfragen beantworten. Ich werde die Reise am 17. oder 18. Juli antreten und mich über Bukarest, woselbst ich kurzen Aufenthalt nehmen werde, nach Konstantinopel begeben, um dort mit Hilfe eines sehr einflußreichen Türken, dessen Sohn mein Schüler ist, einen Ferman zu erlangen, der mir für die Reise in Macedonien und Thessalien den Schutz der türkischen Behörden sichert. Ihrem Rate folgend habe ich mich auch an Herrn Generaldirektor Hasdeu gewandt, der mir einige für das Studium der dako-rumänischen Sprache sehr wichtige Bücher zum Präsent gesandt hat und darüber erfreut ist, daß sich auch im Ausland das Interesse für das Studium der rumänischen Sprache regt; etwas Spezielleres hat er mir dagegen nicht mitgeteilt. Sein etymologicum magnum I.1.2. besitze ich seit einigen Tagen und bin bereits dabei, mit Benutzung des Questionnaires Listen anzulegen, um |2| sie an Ort und Stelle auszufüllen. Gartners „viaggi ladini“1 habe ich gelesen und manches Nützliche darin gefunden. Seine Grammatik2 konnte ich mir bis jetzt nicht verschaffen. Miklosich ‚Beiträge zur rum. Lautlehre3‚ habe ich eifrig studiert und im Anschluß hieran Listen angelegt. Auch Bojadschis Grammatik4 ist mir gründlich bekannt, den Wortschatz habe ich mir zu eigen gemacht, und einen Auszug aus der Grammatik, sowie eine Anzahl Fragen über bei ihm zweifelhaft gelassene Fälle werde ich mitnehmen. Die mostre von V. Petresku5 habe ich fast vollständig übersetzt und lasse mir daraus öfters von einem Rumänen diktieren, um mein Ohr zu üben.
Zur Orientierung über Land und Leute habe ich zwar einiges, besonders Leake ‚Travels in Northern Greek‘6 gelesen, aber viel mehr Nutzen brachten mir die Unterredungen mit Studenten aus Thessalien und Macedonien. Obgleich nun die gehörten Schilderungen über die dortigen Verhältnisse nichts weniger als ermutigend waren, so werde ich mich doch nicht abschrecken lassen, und bin nur froh, daß der drohende Krieg nicht zum Ausbruch gekommen ist.7 Meinen Hauptfleiß habe ich aber auf die Erlernung der rumänischen und neugriechischen Volkssprache verwandt. Denn es ist meiner Ansicht nach die wichtigste |3| Vorbereitung für eine derartige Reise, daß man sich die Landessprache zu eigen zu machen sucht, ohne welche Kenntnis man auf den [sic] Folklore verzichten müßte. Auf die christliche Terminologie, sowie auf genaue phonetische Wiedergabe des Gehörten werde ich besonders bedacht sein. Bezüglich des Wortes „crăciun“ will ich noch bemerken, daß ich dasselbe in mr. Quellen nicht gefunden haben [sic]. „atuni“ fasten findet sich bei Daniel (Leake Res. 387)8 . Ich hörte aber von einem Bulgaren aus Monastir, daß die dortigen Wlachen „kertun“ (kartsun) gebrauchen, wofür derselbe sich aber nicht verbürgen kann.
Ich bin nach dem Einblick in das verschiedene Material zu der Überzeugung gekommen, daß es das Beste sein wird, mich in meinem Studium auf ein oder höchstens zwei isolierte Gebiete zu beschränken und in diesen ausführliches und genaues Material zu sammeln. Da wir schon Genügendes über die nördlichen Dialekte in der Gegend von Monastir, Muskopolis, Mezovon besitzen, dagegen über die olympischen Wlachen, sowie die, welche in der Gegend von Heres wohnen gar nichts, so möchte ich wohl zum Hauptziel meiner Reise Vlacholivadi am Olymp wählen. |4| Dort würde ich 4-5 Wochen verweilen und dann noch den südlichen Pindus, etwa die Gegend von Granitza bereisen. Ich werde hier wohl kaum länger als 10-12 Wochen abkommen können, muß daher meine Pläne etwas einschränken. Ich habe aber vor, in etwa 2 oder 3 Jahren noch einmal eine längere Reise von halb- oder dreivierteljähriger Dauer zu unternehmen, vorausgesetzt, daß alles gut geht. Indem ich Sie herzlich bitte, mir Ihre Ansicht über das Mitgeteilte gütigst zukommen zu lassen, zeichne ich unter der Versicherung meines wärmsten Dankes
Hochachtungsvoll und ergebenst
Gustav Weigand.
Albertstr. 11.
1 Gartner 1882.
3 Miklosich ((1881): „Vocalismus I“, 519–551; 99,1(1882): „Vocalismus II“, 5–75; 100,2(1882): „Vocalismus III. Consonantismus I“, 229–304; 101,1(1882): „Consonantismus II“, 2–95, 102,2(1883): „Lautgruppen“, 2–75.).
4 Bojadschi (1813).
5 Petrescu (1880-1881).
6 Leake (1835).
7 Gemeint sind wahrscheinlich die politischen Spannungen zwischen Russland und Österreich bezüglich der Einflussnahme im Balkangebiet in Folge des serbisch-bulgarischen Kriegs 1885-1886, die in die Unterbrechung der diplomatischen Beziehungen zwischen Russland und Bulgarien mündeten.
8 Vgl. Leake (1814:387) , der als Übersetzungsäquivalent des englischen „collect“ das walachische „se atúni (aduni)“ angibt.