Paul Boehme an Hugo Schuchardt (01-01184)

von Paul Boehme

an Hugo Schuchardt

Posen

22. 12. 1862

language Deutsch

Schlagwörter: Richter, Gustav Ritschl, Friedrich Wilhelm Sybel, Heinrich von Beck, Alfred Bonn Gotha Wolf, Michaela (1993) Schuchardt, Hugo (1864)

Zitiervorschlag: Paul Boehme an Hugo Schuchardt (01-01184). Posen, 22. 12. 1862. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9406, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9406.


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Posen 22 Dec. 1862.1

Mein lieber ὕστριξ2

Es läßt sich allerdings nicht leugnen, daß ich einen wahnsinnigeren Brief als den Deinigen noch nicht gelesen habe; armer Kerl, Du dauerst mich, daß Dich selbst bei der Nacht Deine Philologie nicht schlafen läßt, sondern auch hier mit fieberhaften Traumbildern Dich quält. Wahrhaftig, wäre es mir so gegangen, ich hätte die Philologie an den Nagel gehängt und mich dem Suffe ergeben, denn wenn man einmal sein bischen Verstand verlieren soll, so verliert man es doch wenigstens lieber auf eine angenehme Weise. Also wenn es noch Zeit ist, so laß ab und erhalte Dir den etwa noch vorhandenen (?) schäbigen Rest Deines Verstandes. Nun will ich aber einmal voraussetzen, Du hättest gerade beim Empfange dieses Briefes einen lichten Augenblick und werde ich also mein Schreiben demgemäß einrichten. Zunächst also wirst Du unverschämter Trittvogel3 hier meine Photographie vorfinden; Du brauchtest mich nicht darum zu treten, denn Du erhältst sie dadurch um keinen Augenblick früher oder später als ohne den Tritt, erst bei Gelegenheit des uns bevorstehenden Weihnachtsfestes konnte ich mir eine Vervielfältigung erlauben, um mein Bild als Weihnachtsgeschenk verwerthen zu können, vorher erlaubten es meine Vermögensverhältnisse nicht.4 So nimm es denn also hin mit dankbarem Gemüthe und halte es hoch in Ehren. Ob Richter5 diesem Briefe sein Bildniß wird beifügen können, weiß er noch nicht; er hat zwar sich kürzlich Bilder machen lassen, aber nicht allein, sondern in Gemeinschaft mit seiner |2| Dulcinea, der bekannten Oberstenwittwe, und die kann er doch füglich nicht an so profane Personen wie Dich schicken; vielleicht hat er aber noch ein älteres Bild von sich vorrähtig. Davon wird es also abhängen, ob Du eines bekommst. Nun wünsche ich Dir im übrigen fidele Weihnachtsfeiertage und ein glückliches neues Jahr. Möge letzteres Dir den Doktortitel eintragen und wo möglich auch schon zu einem kräftigen Staatsexamen verhelfen. Dabei muß ich erwähnen, daß Klapp6 in den letzten Tagen des December in Bonn sein Staatsexamen gemacht und für die alten Sprachen, die alte Geschichte sowie für das Deutsche die facultas für Prima sich erworben hat. Er schrieb es mir vor kurzer Zeit, war mit Ritschl vollkommen zufrieden,7 lobte vSybel8 als einen sehr vernünftigen Examinator und war zwar nicht mit dem Examen bei Simrock,9 wohl aber mit einem Vertrage, den er mit diesem geschlossen hatte, sehr zufrieden. Der edle Graf Klapka10 hat nämlich in der alten deutschen Litteraturgeschichte einen ziemlichen Hund prästiert, Simrock hat sich aber von ihm das Versprechen geben lassen, er wolle sich in der nächsten Zeit mit diesem Stoffe beschäftigen, und hat ihm darauf die facultas ertheilt mit der Bedingung daß er erst ungefähr in einem Jahre von dieser facultas Gebrauch machen darf. Dor ist augenblicklich noch in London, wird aber schon in den nächsten Tagen nach Bonn zurückkehren, um den im brit. Museum gesammelten Stoff zu einer Dissertation zu verarbeiten.11Buff langweilt sich als Gouverneur bei seinem Prinzen sehr und muß nebenbei der Königin Vorlesungen über mittlere Geschichte halten,12Karlowa schindet in Bonn riesiges Geld mit ein paar Repetitorien und wird im nächsten Semester anfangen zu lesen.13 Wir beiden, Richter und moi, langweilen uns hier in Posen, Du in Gotha: so hast Du über die auf der Photographie vereinigte Siebenzahl genügende Auskunft. Richter wird wohl bald hier angestellt werden, wogegen ich, abgesehen von meinem eigenen Wunsche aus diesem Scythien – es lebe Bernhardus Foss sodalis!14 – herauszukommen schon aus dem einfachen Grunde, weil hier für mich keine Stelle |3| frei ist, Ostern Posen verlassen werde. Wohin? das wissen bis jetzt nur die Götter, doch hoffe ich, daß die nächsten drei Wochen ungefähr auch mir eine Entscheidung darüber bringen. Augenblicklich lebt und langweilt man sich als freier Mann in den Ferien, es ist aber ganz verdammt triste, weil wir hier zu wenig sind, um uns ordentlich amüsiren zu können. Heute haben wir die Schule geschlossen, ich habe meinen Sextanern bei der Censurvertheilung noch eine riesige Standrede gehalten und sie dann mit väterlichen Ermahnungen in die Ferien entlassen; bei der Censurvertheilung war riesiges Heulen und Zähneklappern zu bemerken. Heute Abend hält unser hochwürdiges Lehrercollegium Abschiedscommers in vinum Hungaricum. Doch nun noch die Frage: was hast Du Dir eigentlich für ein Thema gewählt? wann denkst Du wieder nach Bonn zu reisen und dort Deinen Doktor und Oberlehrer zu machen?15 Darüber sowie über noch vieles andere magst Du mir, wenn Du nicht meinen furchtbaren Zorn und Verachtung auf Dich ziehen willst, recht bald schriftlich einiges erzählen. Uebrigens besuche doch sofort einmal Alfred Beck,16 bringe ihm, seinem Vater und überhaupt seiner ganzen Familie herzliche Grüße und Neujahrswünsche und sage ihm, ich würde an ihn selbst schreiben, sobald ich eine Entscheidung über meine Zukunft von Ostern an fälle. So lebe denn wohl!

In alter Freundschaft Dein

PBoehme

Meine Adresse: Berliner Str. 33.


1 Boehme absolvierte vermutlich in Posen am Friedrich-Wilhelms-Gymnasium sein Referendariat.

2 „Stachelschwein“ – offenbar Schuchardts studentischer Spitzname, möglicherweise wegen eines abstehenden Haarschopfes? Oder eines „stacheligen“, d. h. leicht reizbaren Wesens?

3 „Entenart“, anas clangula; hier ein Wortspiel: „jemanden treten“ i. S. v. „drängen“.

4 Zu diesem Zeitpunkt waren photographische Aufnahmen noch etwas Besonderes!. - Wolf, Nachlaß, S. 619ff. weist dieses Photo nicht nach.

5 Gustav Richter, s. o. Einleitung.

6 Hermann Klapp (1840-), Dr. phil. Bonn 1862 (De vitarum Plutarchearum auctoribus romanis, Bonn: Carthaus, 1862) .

7 Friedrich Wilhelm Ritschl (1806-1876), Klass. Philologe; vgl. HSA 09669- 09671.

8 Heinrich von Sybel (1817-1895), deutscher Historiker, seit 1861 in Bonn.

9 Karl Simrock (1802-1876), bedeutender deutscher Philologe und Germanist.

10 Keine näheren Angaben.

11 Eduard (Victor Edouard) Dor, Ronsardus quam habuerit vim ad linguam Francogallicam excolendam, Bonn, Univ., Diss., 1863. – Der Verf. war Schweizer und stammte aus „Vibisci“ (Vevay).

12 Adolf Buff (1838-1901), aus Gießen stammender Pädagoge und Archivar; er war Erzieher der preuß, Prinzen Wilhelm und Heinrich, die, wie es der Tradition der Familie entsprach, eine Zeitlang in Bonn studierten.

13 Otto Karlowa (1836-1904), aus Bückeburg stammender deutscher Jurist; er promovierte 1862 in Bonn mit der Arbeit De natura atque indole synallagmatos, quod emptioni, venditioni, ceterisque obligationibus mutuis inesse dicitur.

14 Bernhard Foss war in Bonn mit der Arbeit De loco in quo Prometheus apud Aeschylum vinctus sit Bonnae: Cohen, 1862 promoviert worden.

15 Schuchardt wurde 1864 mit der Arbeit De sermonis Romani plebei vocalibus in Bonn promoviert.

16 Alfred Beck (vgl. HSA 00887) stammte aus Gotha, war ein Schulfreund Schuchardts und vermutlich ein Sohn des Stadtarchivars August Beck.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 01184)