Wilhelm Meyer-Lübke an Hugo Schuchardt (57-07279)

von Wilhelm Meyer-Lübke

an Hugo Schuchardt

Bonn

20. 04. 1915

language Deutsch

Schlagwörter: Wörter und Sachen [Zeitschrift] Neues Wiener Tagblatt Österreich Spitzer, Leo (1912) Spitzer, Leo (1913) Hurch, Bernhard (2006) Hausmann, Frank-Rutger (2000)

Zitiervorschlag: Wilhelm Meyer-Lübke an Hugo Schuchardt (57-07279). Bonn, 20. 04. 1915. Hrsg. von Magdalena Rattey (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9353, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9353.


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Bonn Coburgerstrasse 41
20. April 1915

Hochgeehrter Herr. Kollege!

Herr Dr. Spitzer erzählte mir neulich, Sie hätten lobend erwähnt, dass ich seine Habilitation2 durchgesetzt hätte. Da es mir immer unangenehm ist, wenn mir Verdienste zugeschrieben werden, die ich nicht habe, möchte ich die Legende berichten. Ich habe S. vom geistreichen Litteraten, wozu er alle Neigung und Eignung hatte, zum Linguisten umgemodelt und da er sich dabei wol befindet, ist das ein Verdienst von mir um ihn und die Romanistik. Seine Habilitation ist glatt gegangen. Dass ich sie begrüsste, ist selbstverständlich, Becker3 ist mir offen nie entgegengetreten, ein anderer stark antisemitischer Kollege 4, der mir nah befreundet ist, hat sich geäußert, es |2| falle ihm wie bei Jokl5 schwer, zuzustimmen, aber vom wissenschaftlichen Standpunkte aus lasse sich nicht gut etwas einwenden. Die Sache hat sich damals etwas in die Länge gezogen, wie ich meinte durch ein Versehen der Kanzlei, jetzt möchte ich eher ein bewusstes Obstructionsmanöver darin sehen. Wirklich eingetreten für S. bin ich erst, als die antisemitischen Quertreibereien gegen ihn anfiengen [sic]6, wie denn überhaupt der Antisemitismus in der Romanistik in Wien dazu beigetragen hat, dass die im NWT. 7vom 20 iii angegebenen Gründe zum Wechsel meiner Tätigkeit nicht durch andere Erwägungen aufgehoben wurden. 8

Die Zahl der Legenden, die in Oesterreich sich um meine Person gebildet haben, ist gross und nicht alle sind so harmlos wie die von Spitzers Habilitation. Auch von diesem Standpunkt aus bin ich froh, dass ich von dem phantasiereichen Lande weg|3| bin. Ob es hier besser ist, weiss ich nicht, aber jedenfalls bin ich noch Neuling und die Legendenbildung will immer ihre Zeit haben. Unterdess werde ich alt!

Mit kollegialen Grüssen

Ihr ergebenster

Meyer-Lübke


1 Dieser Brief wurde also bereits aus Bonn, wohin ML 1915 mit seiner Familie zog, abgeschickt.

2 Leo Spitzer (1887-1960) war Schüler Meyer-Lübkes in Wien. 1910 promovierte er, am 4. März 1913 habilitierte er sich in Wien (vgl. Romanistenlexikon). Seine Habilitationsschrift trägt den Titel: Die Namengebung bei neuen Kulturpflanzen im Französischen, Dialektfranz. échaler, ,Nüsse abschlagen’. Sie erschien in Band 4 (1912) und 5 (1913) der von ML mitherausgegebenen Zeitschrift Wörter und Sachen (Heidelberg: Winter).

3 Philipp August Becker (1862-1947), war zu dieser Zeit (1905-1917) Professor für Romanische Philologie in Wien. Im Schuchardt-Nachlass befinden sich 9 Briefe Beckers ( 00889-00897). Hausmann (2016d) hat die Korrespondenz (01-00889-09-00897) aufgearbeitet. Spitzers Meinung über Becker äußert er in einem Brief an Schuchardt ( 320-11081, ed. in Hurch (Hg.) 2006): „Ich verehre den großen Gelehrten, meinen Lehrer, ich verabscheue den Antisemiten.“ Hausmann (2000: 11) weist darauf hin, dass antisemitische Äußerungen Beckers bekannt sind (vgl. zusätzlich ebd.: 13; 273).

4 Wer dieser Kollege MLs war, ist unklar.

5 Norbert Jokl (1877-1942), u. a. Schüler Meyer-Lübkes, habilitierte sich 1913 für Indogermanistik. 1942 wurde er nach Minsk deportiert und dort ermordet (vgl. ÖBL den Eintrag " Jokl, Norbert"). Ein Brief Jokls an Schuchardt (01-05138) ist erhalten und ediert in Hurch (2015a) .

6 An dieser Stelle scheint es angebracht, eine Aussage Spitzers in einem Brief an Schuchardt vom 24. November 1912 ( 5-10767, ed. in Hurch (Hg.) 2006) wiederzugeben. Spitzer berichtet hinsichtlich des Dozentenkolloquiums: „Konfessionelle Bedenken, die wie immer im lieben Österreich in der Fakultätssitzung auftauchten, hat Meyer-Lübke mit der Macht seines Wortes beseitigt. So trennt mich nur mehr der bloß formelle Probevortrag [...]“.

7 Neues Wiener Tagblatt. Der Artikel, den ML hier meint, erschien allerdings am 12. März (s. FN zu 56-07277).

8 Wie oben (vgl. FN zu 56-07277) bereits erwähnt, wurden im Neue[n] Wiener Tagblatt MLs Worte, die er anlässlich seiner Abschiedsfeier auf der Universität sprach, abgedruckt. Die wiedergegebene Rede MLs ist betitelt „Die deutsche Kulturgemeinschaft“ und es heißt darin z.B.: „Nun kommt noch eines, was mir den Weggang erleichtert [...]. So lange ich denken kann, besteht für mich [...] das Bewußtsein einer großen deutschen Kultureinheit“.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 07279)