Wilhelm Meyer-Lübke an Hugo Schuchardt (30-07253)
an Hugo Schuchardt
16. 06. 1905
Deutsch
Schlagwörter: Universitätsbibliothek Graz Neue Freie Presse Romanische Philologie Hurch, Bernhard (2009) Schuchardt, Hugo (1905) Hurch, Bernhard (2009) Mussafia, Adolf (1905) Mussafia, Adolph (1873) Schuchardt, Hugo (1884)
Zitiervorschlag: Wilhelm Meyer-Lübke an Hugo Schuchardt (30-07253). Wien, 16. 06. 1905. Hrsg. von Magdalena Rattey (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9321, abgerufen am 17. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9321.
Wien 16 Juni 05.
Hochgeehrter Herr Hofrat!
Dimand1 habe ich im Dezember zuletzt gesehen. Er wollte sich habilitieren, ich lehnte ab teils wegen der grossen Zahl der Romanisten, teils weil er nur eine einzige Arbeit aufwies. Dass er mit bewusster Absicht Ihre Festschrift2 nicht erwähnt habe, bezweifle ich: das ist nicht seine Art. Im April oder Mai erzählte mir El. Richter 3, D. wolle um M.a zu ehren in der N.F.P.4 einen Aufsatz über die „Bausteine“5 schreiben. Ich vermute, dass sein Nachruf6 z.T. aus diesem Aufsatze hervorgegangen ist, daher dass der Aufsatz eine Art Entwicklung der rom. Philol. vor und durch M.a darstellen sollte. Durch M.a Tod7 ist |2|nun etwas anderes daraus geworden. –
Ich habe bei dem Nachruf im Kolleg aus Anlass des ‘Beitrages’8 und aus Anlass der ‘Praesensbildung’9 Ihrer gedacht. Für die Charakterisirung in der Wiener Zeitung 10 standen mir zu einer Zeit, wo ausser sich immer steigernden Dekanatsgeschäften mich auch die Lehramtsprüfungen in Anspruch nahmen, gerade vier Stunden zu Gebot. Ihrer von M’s so durchaus verschiedener Art zu gedenken hätte verlockt; ich habe der Lockung widerstanden, weil vermutlich für ein grösseres Publikum, ein solcher Vergleich mit sorgfältigster Wahl des Ausdruckes vorgenommen werden muss, wenn nicht der eine durch den andern niedergedrückt |3| werden soll. Dazu fehlte mir Zeit und Ruhe.
Sollte ich Gelegenheit haben Dimand zu sehen, so werde ich ihn noch selber auf das Auffällige hinweisen, das seine Nichtbeantwortung Ihrer Karte hat. Ist meine Vermutung über die Entstehung seines Artikels richtig, so bleibt umso merkwürdiger, dass er nicht selber Sie darüber aufklärte.11
Mit besten Grüssen
Ihr ergebenster
Meyer-Lübke
1 Bernhard Dimand (xxxx-xxxx). Autor von Zur rumänischen Moduslehre (1904) (Denkschr. der kaiserl. Akad. d. Wissenschaften in Wien. Philosophisch-Historische Klasse 49, 3) . Zu Dimand vgl. den Brief Schuchardts an Elise Richter vom 16. April 1905 und die entsprechende Fußnote dazu (Nr. 266_27-30 [Lfd. Nr. 09], ed. in Hurch 2009a).
3 Elise Richter (1865-1943), österr. Romanistin, war Mussafias und MLs Schülerin in Wien. Sie promovierte 1901, 1905 habilitierte sie sich. Ab 1907 durfte sie als „Privatdozent“ lehren; sie war die erste Privatdozentin Österreichs (vgl. z. B. Hausmann 2003 ). Der Briefwechsel zwischen Richter und Schuchardt ist in Hurch (Hg.) (2009a) veröffentlicht (vgl. auch die Webedition der Korrespondenz im HSA). Richters Briefe im Schuchardt-Nachlass der UB Graz sind verzeichnet unter den Nrn.: 09573-09575. Im Hinblick auf ML sind die in Hurch (Hg.) (2009e) erschienenen Briefe Spitzers an Richter lesenswert – in einigen Briefen charakterisiert Spitzer seinen ehemaligen Lehrer äußert genau und nicht nur positiv.
4 Neue Freie Presse. Sie erschien in Wien von 1864 bis 1939.
5 Bausteine zur romanischen Philologie. Festgabe für Adolfo Mussafia zum 15. Februar 1905 (Halle a. d. S.: Niemeyer).
6 Dimand, Bernhard. Adolf Mussafia. Neue Freie Presse (14652), 8. Juni 1905, S. 6-7 . In diesem Nachruf wird Schuchardts Festschrift für Mussafia (Schuchardt 1905a) nicht erwähnt. ML kommt in der Karte vom 1. Dezember 1905 (032-07255) noch einmal auf einen Nachruf, womit möglicherweise Dimands gemeint ist, zu sprechen.
7 Adolfo Mussafia starb am 7. Juni 1905 im Alter von siebzig Jahren in Florenz. Schuchardt sandte ihm seine Festschrift (Schuchardt 1905a) noch im April an die Wiener Adresse (vgl. den Briefwechsel zwischen Richter und HS, ed. in Hurch (Hg.) 2009a).
8 Mussafia (1873). Vgl. auch FN zu 09-07232 in der vorliegenden Korrespondenz.
9 Mussafia, Adolfo. 1883. Zur Präsensbildung im Romanischen. Wien: Gerold . Schuchardts Besprechung erschien als: Schuchardt, Hugo. 1884. [Rez. von:] Mussafia, A., Zur Präsensbildung im Romanischen. Ltbl. f. germ. u. rom. Philol. 5: 61–68.
10 Meyer-Lübke, Wilhelm. Adolf Mussafia. Wiener Zeitung (134), 11. Juni 1905, S. 8-9. Schuchardts Festschrift für Mussafia (Schuchardt 1905a) wird in diesem Artikel nicht erwähnt. Vgl. den nachfolgenden Satz im Brief.
11 Es ist ein Brief Dimands, datierend vom 5. Mai 1905 ( 02345), im Schuchardt-Nachlass erhalten. In diesem bedankt sich Dimand für die ihm zugesandte Festschrift (Schuchardt 1905a) für den „Meister Mussafia“, wie er Mussafia im Brief betitelt. Dimands Worte zeugen von ehrlicher Bewunderung für Schuchardt, umso unverständlicher erscheint es daher, dass er Schuchardts Festschrift in seinem Nachruf auf Mussafia nicht erwähnt hat.