Wilhelm Meyer-Lübke an Hugo Schuchardt (12-07235)

von Wilhelm Meyer-Lübke

an Hugo Schuchardt

Wien

13. 12. 1899

language Deutsch

Schlagwörter: Universität Wien Romanische Philologie Archivio glottologico italiano Kaiserliche Akademie der Wissenschaften (Wien)language Italienischlanguage Rumänischlanguage Slawische Sprachenlanguage Dalmatischlanguage Rätoromanische Sprachenlanguage Ukrainisch Istrien Florenz Paris Meyer-Lübke, Wilhelm (1911–1920) Bartoli, Matteo (1899) Schuchardt, Hugo (1884) Hurch, Bernhard/Melchior, Luca (2015) Ive, Antonio (1886) Mücke, Johannes/Schwägerl-Melchior, Verena (2016)

Zitiervorschlag: Wilhelm Meyer-Lübke an Hugo Schuchardt (12-07235). Wien, 13. 12. 1899. Hrsg. von Magdalena Rattey (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9303, abgerufen am 27. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9303.


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Wien 13 XII 99

Sehr geehrter Herr Kollege!

Durch einen zufall ist Dr Bartoli 1, den ich sonst oft wochenlang nicht sehe, heute bei mir gewesen und ich habe ihm Ihren brief übergeben, da er doch ihn betraf, mich in keiner weise anging. 2

Allerdings ist B. auch mein schüler, hat aber zu Mussafia, zu dessen ständigen vorlesern er gehört, viel mehr beziehungen als zu mir. Er hat mir seinerzeit seinen bericht 3, nach dem er ihn M. vorgelesen hatte, gezeigt und auf seine frage habe ich ihm auch offen gesagt, dass, wenn ich etwas zu entscheiden hätte, ich ihn so nicht annehmen würde, da er |2|viel zu lang sei, und sachlich manches nicht hingehörige enthalte, auch die ausfälle gegen Ive sich nicht gehören. Ich muss übrigens bemerken, dass in diesem ersten entwurfe diese ausfälle weniger an den haaren herbeigezogen waren und besser in das ganze passten als es jetzt der fall ist.

Auf Ihre sachlichen einwände einzugehen versage ich mir umso mehr, als B. selber es wol tun wird.4 Aber etwas muss ich doch richtig stellen. Sie schreiben, durch die ‘gunst der akad. seien ihm die betreffenden untersuchungen ermöglicht worden’. Das ist nicht der fall.

Schon als ganz junger student sagte mir B., er möchte über das rumänische in Istrien arbeiten, und ich munterte ihn dazu auf. - Als ich spæter mich nach der arbeit erkun|3|digte, teilte er mir mit, es sei ihm von andere seite abgeraten worden, da von Miklosich 5, Ive 6, Gartner7 schon alles gemacht sei. Ich unterdrückte meine zweifel an der richtigkeit dieser auffassung, B. trat sein militärjahr an, ging dann nach Florenz und Paris und wollte, nach W. zurückgekehrt, über das istrische weiter arbeiten. Aus eigenem antriebe (auch ich kann das verdienst der anregung nicht in anspruch nehmen) und trotz Ives abraten ging er nach Veglia8 und überraschte mich dann mit verhæltniss mässig reichem neuen materiale, dessen verarbeitung seine dissertation bildete. Erst dann hat ihn die akademie beauftragt; er hat hierauf eine nachlese unternommen, die wie zu erwarten war trotz aller |4| darauf verwendeten mühe und zeit recht spärlich ausfiel. Trotzdem ist natürlich für eine so trümmerhaft überlieferte sprache wie die altromanische Dalmatiens jedes wort von wert und es ist sehr zu begrüssen, dass B. durch die akademie zu dieser letzten nachlese veranlasst worden ist. Nur hätte, wo das durch die gunst der akademie erreichte so wenig ist, die hauptarbeit schon getan war, der bericht sich bescheiden halten sollen. – Es ruht kein segen auf der Treitelstiftung 9 ! B. sollte 98 gehen, musste aber in Siebenbürgen militärdienst tun, und 99 war der alte Udina10 tot.

Nächster Tage werde ich Ihnen meine syntax11 schicken: hoffentlich finden Sie nicht gar zu viel auszusetzen d.

Mit hochachtungsvollem grusse

Ihr ganz ergebener

W. Meyer-Lübke


1 Matteo Bartoli (1873-1946) studierte Romanische Philologie u. a. bei ML und Mussafia in Wien. Im Nachwort (1920c) zur 1. Auflage des REW lobt ML Bartolis Kompetenz hinsichtlich des Italienischen, gesteht aber, dass „die Kriegserklärung Italiens an Deutschland auch dieses so feste Freundschaftsband zerrissen hat.“ Bartoli und Schuchardt führten eine Korrespondenz, deren Briefe Bartolis (00539-00550) veröffentlicht sind in Schwägerl-Melchior (2017b) .

2 Anlässlich des Berichts, den Bartoli (1899) verfasste, schrieb Schuchardt an Vatroslav Jagić, ML und Mussafia. In diesem Bericht war für Schuchardt besonders die Kritik an Antonio Ive inakzeptabel, vgl. Brief vom 11. Dezember 1899 (57-s.n., ed. in Mayr 2016 ), worin letzterer auch Jagić seine Gründe für die Abneigung gegen den Bartoli-Bericht schildert. Aus diesem Brief (57-s.n.) geht hervor, dass Schuchardt ML am 11. Dezember 1899 schrieb. Die Antwort MLs folgte also zwei Tage später.

3 Bartoli (1899).

4 Im Brief vom 16. Dezember 1899 (01-00539, ed. in Schwägerl-Melchior 2017b) an Schuchardt rechtfertigt sich Bartoli für seine an Ive geübte Kritik.

5 Franz von Miklosich (1813-1891), Slawist und Linguist, ab 1850 ordentl. Professor für slawische Philologie und Literatur an der Universität Wien und Autor zahlreicher Werke über slawische Sprachen. Schuchardt widmete ihm seine Schrift Slawo-Deutsches und Slawo-Italienisches (Schuchardt 1884b). Zur Korrespondenz zwischen Miklosich (07370-07379) und Schuchardt vgl. die Webedition in Hurch & Melchior 2015.

6 Antonio Ive (1851-1937) war, sowie Bartoli, Schüler Mussafias, bei dem er sich 1881 für Romanische Philologie habilitierte. Von 1902 bis 1921/22 war er o. Professor in Graz (vgl. Romanistenlexikon). Ives Beitrag im AGI zum vegliotischen DalmatischL'antico dialetto di Veglia (1886) wird in Bartoli (1899) nicht geschätzt; zum Verhältnis zwischen den beiden und zur Frage, wer von ihnen das Vegliotische „entdeckt“ habe, vgl. Schwägerl-Melchior & Mücke (2016: 186-188), worin auch die Briefe Ives veröffentlicht sind. Zur Webedition vgl. Dorn & Mücke & Schwägerl-Melchior (2015) .

7 Theodor Gartner (1843-1925) studierte Romanische Philologie bei Mussafia in Wien und besetzte 1899 den Lehrstuhl für das genannte Fach in Innsbruck. Sein Kerngebiet war zwar das Rätoromanische, seine Arbeiten zum Rumänischen (und Ukrainischen) verdienen aber ebenso Beachtung (vgl. Romanistenlexikon). Im Schuchardt-Nachlass liegen Briefe Gartners an Schuchardt (03349-03570).

8 Italienischer Name der kroatischen Insel Krk.

9 Diese Stiftung ist benannt nach ihrem Initiator Joseph Treitl (1804-1895). Dieser hatte die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien zur „Universalerbin seines Vermögens eingesetzt, das sich aus über eine Million Gulden beläuft, von welcher Summer ungefähr 200 000 von besonderen Legaten beansprucht werden“ (vgl. "Eine hochherzige Stiftung zur Pflege der Wissenschaft", Die Gartenlaube 8 (1895), 131 ). Obwohl er durch die finanzielle Unterstützung besonders die naturwissenschaftliche Forschung antreiben wollte (vgl. ebd.; ÖBL), profitierte auch die historisch-philosophische Klasse der Akademie von dem Erbe: Die Gründung der sog. Balkancommission war ein Resultat der Treitl-Stiftung (vgl. Schaller 2008: 208f. ). ML spielt hier vermutlich auf den plötzlich vorhandenen finanziellen Überfluss durch die Treitl-Stiftung an.

10 Tuone Udaina, it. Antonio Udina, war der letzte bekannter Sprecher des Vegliotischen. Bartoli (1899: 71) schreibt in seinem Bericht, dass Udaina 1898 „von einer Mine in die Luft gesprengt!“ wurde.

11 Meyer-Lübke, Wilhelm. 1899. Grammatik der romanischen Sprachen. Dritter Band: Syntax. Leipzig: Reisland.

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