Wilhelm Meyer-Lübke an Hugo Schuchardt (10-07233)

von Wilhelm Meyer-Lübke

an Hugo Schuchardt

Wien

06. 01. 1899

language Deutsch

Schlagwörter: Zeitschrift für romanische Philologielanguage Italienischlanguage Französischlanguage Provenzalischlanguage Latein Förster, Wendelin Nigra, Costantino Schuchardt, Hugo (1899) Meyer-Lübke, Wilhelm (1911–1920) Förster, Wendelin (1899) Schuchardt, Hugo (1897)

Zitiervorschlag: Wilhelm Meyer-Lübke an Hugo Schuchardt (10-07233). Wien, 06. 01. 1899. Hrsg. von Magdalena Rattey (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9301, abgerufen am 23. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9301.


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Wien 6 I 99

Hochgeehrter Herr Kollege!

‘Da muss sich manches rätsel lösen, doch - manches rätsel knüpft sich auch’1 - nur ist-, und das ist wol die hauptsache, die zahl der von Ihnen in dem zweiten etymologischen beitrag 1)2 gelösten unendlich viel grösser und vor allem wichtiger, als was übrig bleibt oder sich neu aufwirft.

Wer überhaupt beweisführungen zugänglich ist und jedes mass von – soll ich sagen sachkenntnis oder schulung oder glauben besitzt, das, wo es sich nicht um gleichungen wie pater : padre handelt, nun einmal die voraussetzung der nicht exakten wissenschaften bildet, für den ist das trovare problem3 gelöst. – Die kaninchenhafte fruchtbarkeit

1) Indem ich den brief nochmals lese, sehe ich, dass ich die hauptsache vergessen habe – Ihnen meinen wärmsten dank für die freundliche, frühe zusendung4 auszusprechen.

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von cochlea wirkt auf den ersten blick fast beängstigend, aber auch wenn der eine und andere bastard dazwischen sein, wenn sich gelegentlich vielleicht ein ganz fremder eingeschlichen haben sollte, so wird doch auch hier das meiste bestehen bleiben, namentlich die glocke endgültig gedeutet sein.

Zu most bietet das Schweizerische Idiotikon IIII 544 5auch einiges.

Zu den kleinen rætseln gehört das verhæltniss von tẹro zu tie, oder soll man neben tẹra ein tęra annehmen wie ecclęsia? Oder clocia > cruise, wo man doch [']closse, crosse erwartete; auch habe ich einige bedenken, das deutsche weit verbreitete wort ohne weiteres aus dem franz. zu leiten, wæhrend allerdings|3|crogiuolo, auf dessen zusammenhang mit krause usw. ich vor vielen jahren (Zs XI6 578) hingewiesen habe, eher als frz. lehnwort ginge.

Meine deutung von aorir usw möchte ich nicht ohne weiteres preisgeben – nicht aus angeborner halsstarrigkeit, die ich, wie gerade Sie ja wissen, nicht habe, als weil abhorrere mir noch schwerere bedenken erregt.7

Dass ich Sie wegen nichtnennung bei trebol8 auch nur in gedanken eines plagiats zeihen würde haben Sie hoffentlich nicht ernstlich geglaubt; Sie täten mir damit sehr unrecht. Ich hätte selbst bei Foersterslandier9 artikel nicht zur feder gegriffen, auch wenn er selber nicht eine übrigens recht mangelhafte berichtigung gebracht hatte. Sie klagten damals, dass die prov. Wbb. so unbequem stünden, |4|dass Sie sie nicht immer heranzögen, so nahm ich Ihnen die mühe ab, da mir das wort grade einfiel. Dass für mich das prov. b keine schwierigkeit macht, wissen Sie von damals her – an dem ǫ stosse ich mich etwas mehr – aber nicht so, dass ich darüber fiele / Mehr anderswo. Neumann bittet mich, Ihre schrift im litbl. anzuzeigen. 10

Im nächsten heft der Zs. berühre ich in einer note zum bericht über das Arch. Gl. 11das latTepula mit dem von Nigra12 ua. unfug getrieben wird. Erst neulich, als ich für Vollmöllers Jb.13 Ihren sapidus aufsatz14 durchstudirte, sah ich, dass Sie auch schon dieses Tepula15 in seine richtigen schranken gewiesen hatten, konnte aber das zitat nicht mehr nachtragen. Scusi!

Mit hochachtungsvollem grusse

Ihr ganz ergebener

W. Meyer-Lübke


1 ML zitiert hier Verse aus einem Dialog zwischen Faust und Mephistopheles in GoethesFaust, Kap. 24.

2 Schuchardt, Hugo. 1899. Romanische Etymologieen II. Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien 141: 1–122. [Archiv-/Breviernummer: 335]. (= Schuchardt 1899b).

3 Der Etymologie von ital.trovare (franz.trouver etc.) schenkt Schuchardt (1899b) seine besondere Aufmerksamkeit. Die Diskussion um die Wurzel der romanischen Wörter, an der sich Gaston Paris und Schuchardt maßgeblich – jedoch mit unterschiedlichen Ansichten – beteiligten, wird in weiteren Schuchardt’schen Beiträgen für die ZrP fortgesetzt (vgl. Werke im HSA). Vgl. auch REW (1911) 8992, s.v. tŭrbāre.

4 Betrifft Schuchardt (1899b), wie aus der Einleitung des vorliegenden Briefes hervorgeht.

5 Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache. Bd. IV. (Vgl. Sp. 541-544, s.v. Most) Dieser Band erschien erst 1901 vollständig.

6 Meyer-Lübke, Wilhelm. 1887. Studi di filologia romanza. Fasc. 4. [Besprechung]. ZrP 11: 578-580.

7 Im REW (1911) steht das Etymon abhorrescĕre (23) für u. a. provenzalisch aorrir. Im REW (1935b) findet sich das Etymon oder „Stichwort“ abhŏrrēscĕre (23) für prov. aborrir.

8 Vgl. Schuchardt (1899b: 67). Dazu schreibt ML in Rom. Grammatik I, § 605 (1890a) .

9 Foerster, Wendelin. 1899. Französische Etymologien (Neufr. andier, engl. Andiron). ZrP 23: 422-429.

10 Dieser Bitte kam ML nach. Vgl. FN 343 zu 17-07226.

11 Meyer-Lübke, Wilhelm. 1900. Archivio Glottologico Italiano. Band XV, Heft 1 u. 2. ZrP 24: 139-144 . Die Note zu aqua tepula befindet sich auf S. 140.

12 ML bespricht in diesem Bericht (s. vorhergeh. FN) u. a. Costantino Nigras Note etimologiche e lessicali (in Archivio Glottologico Italiano 15, 97-130 ). Zu tepula in diesem Artikel siehe S. 108.

13 Geimeint ist Meyer-Lübke, Wilhelm. 1899. Italienische Grammatik. 1895-1896. Kritischer Jahresbericht über die Fortschritte der Romanischen Philologie IV: I 154- I 156.

14 Schuchardt (1897b).

15 Vgl. Schuchardt (1897b: 39).

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