Wilhelm Meyer-Lübke an Hugo Schuchardt (05-07228)

von Wilhelm Meyer-Lübke

an Hugo Schuchardt

Wien

21. 02. 1891

language Deutsch

Schlagwörter: Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Wien Literaturblatt für germanische und romanische Philologielanguage Französischlanguage Italienischlanguage Provenzalischlanguage Rätoromanische Sprachenlanguage Spanischlanguage Portugiesischlanguage Altfranzösisch Wien Schuchardt, Hugo (1880)

Zitiervorschlag: Wilhelm Meyer-Lübke an Hugo Schuchardt (05-07228). Wien, 21. 02. 1891. Hrsg. von Magdalena Rattey (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9296, abgerufen am 16. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9296.


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Wien IV. Belvederegasse 8 21 II 91

Hochgeehrter Herr College!

Zuvörderst meinen herzlichsten glückwunsch zu Ihrer ernennung zum o. mitgl. der Akad.1 Ich hatte mich immer gewundert und es als ein unrecht empfunden, dass die gelehrte körperschaft Sie noch nicht ganz in ihre mitte aufgenommen hatte und freue mich nun doppelt, dass es endlich geschehen ist. Wird das Sie nun nicht veranlassen, öfter nach Wien zu kommen als es bisher geschehen, und wenn ja, dürfte ich dabei vielleicht einmal Ihre persönliche bekanntschaft machen? Was um so eher möglich wäre, als meine wohnung nur wenige minuten vom südbahnhof entfernt ist –

Was mich heute noch veranlasst Ihnen zu schreiben, ist wieder eine prinzipien frage. – So viel ich sehe, nimmt man allgemein an, im urfranzösischen sei -atóre an stelle von -ītóre|2|-ĭtóre getreten und beruft sich dabei auf das überwiegen der a-verba, bezw. der typen -atore. Aber ist dieser typus im frz. stärker als im ital.prov.rät.span.portg., wo ein derartiger übergriff nicht statt hat? Wer sagt, dass im frz. -atóre überall eingetreten sei, muss, mein ich, auch sagen, weshalb in den andern sprachen -ĭtóre-ītóre blieben, sonst hat er eben nur etwas behauptet, nichts bewiesen. – Ich erkläre nun ganz anders. In folge des Darmestet. gesetzes2 gerieten im nordfranz. u prov. der stamm des verbums und der consonant des suff -tore in eine derartige berührung, dass in den meisten fällen entweder der verbalstamm oder das t des suffixes eine veränderung erlitten, die den einen der beiden wortbestandteile bis zur unkenntlichkeit zerstörte. Aus venditore entsteht venteur neben vend-ons, aus dormitóre : dorteur neben dorm-ons. Nur standen daneben die zahlreichen wörter von a-verben wie amadór, in denen ama- einerseits, -dor andrerseits schön auseinander gehalten wurden. Dies hatte zur folge, dass venditóre und dormītore gar nicht synkopirten, sondern ihr ĭ̄ auf einen schwa-vokal reduzirten, der die beiden elemente, stamm u. suffix, auseinanderhielt. vendedór, dormedór. Im franz. nun, wo |3|amadór zu amȩdór wird, fielen die 3 typen im cas. obl. zusammen, daher auch nom. *dormire durch dormere ersetzt wurde. Im prov., wo -ador von -edor geschieden blieb, hielt sich īre, wie aber zu aire der obl. ador lautete, so zu ire-idór, und umgekehrt zu obl. -edor nom -eire. Damit ist die oben angedeutete schwierigkeit gelöst, und zugleich die verschiedenheit zwischen frz. und prov. im nom. erklärt. –

Sie werden mir dortoir entgegen halten. Allein bei solchen fragen, wo die psychologischen elemente die hauptrolle spielen, muss jedes suffix, oder noch lieber jedes wort für sich erwogen werden, ausserdem finden wir auch dorme-oir in afr. Zunächst fragt es sich, ob der grundgedanke richtig ist, und darüber möchte ich gerne Ihre ansicht vernehmen. Zur stütze will ich anführen: die wörter auf ĭtáte synkopiren alle mit ausnahme derjenigen, wo dem suffix ein t vorangeht: bonté : sainteté, also das physiol. gesetz, wonach matutinus zu mattinus wird, wird aufgehoben durch ein psychol., das suffix u stamm auseinanderhælt. –

Neumann3 , dem ich die sache vorlegte, schreibt, das sei unmöglich, weil es gegen alle unsere prinzipien verstosse! Es frägt sich, |4|ob wir die prinzipien nach den tatsachen oder die tatsachen nach den prinzipien zu richten haben. Ich hatte ihm den grundsatz nämlich geradezu formulirt: „wenn durch vokalausfall flexionsendungen oder suffixe mit dem stamm eine so enge verbindung eingehen würden, dass eine zerstörung eines der wesentlichen wortbestandteile entstünde, so tritt nicht volle synkope ein, sondern es hælt sich ein hemmendes vokalelement.“ Das ist wol etwas zu viel u. zu allgemein, und nicht für die junggrammatische schablone passend, aber im grunde vielleicht nicht ganz unrichtig – Wenn übrigens factore usw im rom. durch facitore usw ersetzt werden, was für einen anderen grund hat das, als stamm u. suffix auseinanderzuhalten? Natürlich kann man, um in den augen der junggramm. gnade zu finden, sagen: nach „analogie“ von amadire : amor wird dortore zu dormir neugebildet als dormidore, aber wo bleibt frz. dormedor und vendere : vendedor?! – Ich war mit meiner ansicht fertig, für diese und manche andere erscheinung der wortbildungslehre, als mir Ihre bemerkung über st aus t+t Zs. IV4 146, die mir seinerzeit beim erscheinen des artikels nicht völlig klar war, wieder einfiel, und dies veranlasste mich, Ihnen die sache mit der bitte um Ihr urteil vorzulegen.

Mit grösster hochachtung

Ihr ganz ergebener

W. Meyer-Lübke


1 1891 wurde Schuchardt wirkliches Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien. Im Sitzungsprotokoll der philosophisch-historischen Klasse vom 7. Oktober 1891 finden die neugewählten Mitglieder Erwähnung (vgl. Anzeiger d. kaiserl. Akad. d. Wiss. Philos.-hist. Classe 1891, S. 71 ).

2 Im Abschnitt Histoire des voyelles. I. Atones finales (vgl. Darmesteter 1891: 83 ) findet sich unter § 47 „Chute des atones finales, sauf A“ folgendes Gesetz: „Toutes les finales atones tombèrent, sauf l'A, qui se maintint sous forme d'E féminin. Si le mot se terminait par un groupe de consonnes de prononciation trop difficile, l'E féminin s'ajouta comme voyelle d'appui.“ (Ebd.).

3 Friedrich (Fritz) Neumann (1854-1934) war zu dieser Zeit o. Professor für Romanische Philologie in Heidelberg. Er war Mitherausgeber des Ltbl. f. germ. u. rom. Philol. (von 1880 bis 1929). Seine Briefe an Schuchardt (07759-07816) sind veröffentlicht in Hausmannn (2016b) .

4 Schuchardt, Hugo. 1880. [Rez. von:] Ernst Windisch, Kurzgefasste Irische Grammatik mit Lesestücken. ZrP 4: 124–155. [Archiv-/Breviernummer: 121]. Hier S. 146 lautet es: „Einen sehr sichern und lehrreichen Beleg für Spirans + Tenuis = Tenuis + Tenuis liefert uns die vielen Sprachen gemeinsame Entstehung von st aus wurzelhaftem t + Suffix-t [...].“

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