Wilhelm Meyer-Lübke an Hugo Schuchardt (04-07227)

von Wilhelm Meyer-Lübke

an Hugo Schuchardt

Wien

1891

language Deutsch

Schlagwörter: Universität Wien Revue celtique Universität Paris-Sorbonnelanguage Altfranzösischlanguage Französischlanguage Vulgärlateinlanguage Walisischlanguage Provenzalischlanguage Lateinlanguage Italienisch Alighieri, Dante Wolf, Michaela (1993) Schuchardt, Hugo (1891) Meyer-Lübke, Wilhelm (1890) Schuchardt, Hugo (1868) Schuchardt, Hugo (1881–1883) Thomas, Antoine (1902) Gröber, Gustav (1886) Petrocchi, Policarpo (1884) Bellini, Bernardo/Tommaseo, Niccolò (1865) Diez, Friedrich Christian (1853) Schuchardt, Hugo (1891) Meyer-Lübke, Wilhelm (1894)

Zitiervorschlag: Wilhelm Meyer-Lübke an Hugo Schuchardt (04-07227). Wien, 1891. Hrsg. von Magdalena Rattey (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9295, abgerufen am 01. 12. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9295.


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Wien IV. Belvedereg 81

Hochgeehrter Herr College!2

Entschuldigen Sie mein versehen wegen jenuarius3. Gegen meine sonstige gewohnheit habe ich dies eine mal Ihren III. bd.4 nachzuschlagen versäumt, aus dem grunde wol weil ich, nur ungern zu einer persönlichen abwehr, bei der für die wissenschaft nichts herausschaut, die feder ergreifend, möglichst rasch darüber hinweg kommen wollte. Ich hatte damals erst die absicht, Ihre bemerkung über jenuarius in der Revue Celtique5 anzuführen, konnte aber den band nicht bekommen, und unterliess es daher.

Mit grossem interesse habe ich Ihre ausführungen über -eis Zs XV. 237 ff.6 gelesen. Dass ich mich seinerzeit7 mehr um das woher gekümmert habe, liegt daran, dass ich lediglich durch Thomas, dessen artikel8 auf verschiedenen seiten anklang fand, veranlasst wurde, meine ansicht zu veröffentlichen. Was nun aber das wie betrifft, so bleiben mir auch jetzt noch einige zweifel, die ich Ihnen gerne vorlegen möchte und die Sie mir zu lösen wol die freund|2|lichkeit haben.9 Ihre erste forderung für die möglichkeit einer ausdehnung nehme ich ohne weiteres an. Aber steht nicht gerade im provenzalischenfort dem gent begrifflich recht nahe, und ist nicht der schritt von fort zu long und ample ein kleiner? Namentlich wenn allenfalls ein grandeis (das doch wol nötig wurde, wenn auch grandius nicht völlig = grandis) noch bestanden hat. Es bleibt doch immer bemerkenswert, dass nur diese adj die –eis form zu kennen scheinen. Übrigens konnte ámplĭus ÷ amplĭ́ius nicht ebenso gut zu amplẹius werden, oder ist auch im spateren lateinamplĭĭus > -ūus nötig? Dann wären sordidius : amplĭ-ius die ausgangspunkte und das wie läge klar vor. – Also auch so weit folge ich Ihnen im wesentlichen noch, dagegen macht mir nun die weitere annahme von parallelen adj. auf -ius und -idus mehr bedenken, weil mir zwingende beispiele fehlen. Von den Zs. VIII. 217 10aus dem ital. angeführten fällen von -io = -idus streiche ich floscio ohne weiteres, vgl. Gröber Substr.11 s.v.12 .; auch moscio gehört kaum zu mucidus, da die bedeutung|3| nicht passt, marcio wird eher zu marcire zu ziehen sein und so bleibt nur das von Ihnen angeführte rancius.13 Allein ist ranciorancidus florentinisch? Fanfani Rigutini14 und Petrocchi15 kennen nur rancido, letzterer giebt rancio = rancido als alt an u. verweist auf Tommaseo 16, den ich nicht zur verfügung habe; Dante kennt rancio Purg. II 9 17= cio. – Auch sonst wüsste ich im augenblick keinen sichern fall von -ius neben -idus, während für das umgekehrte südital pruope̥te̥ = proprius allerdings angeführt werden kann. Darf man aber daraus den umgekehrten wandel ohne weiteres erschliessen?

Nicht völlig klar sind mir Ihre weiteren auseinandersetzung über antius usw. Worauf stützt sich „rom. propius“ 18? Das afr. kennt meines wissens nur pruef, aital. pruovo, während proche erst seit dem XIV jh. erscheint, also wol besser als eine abstraction aus proch-ain gefasst wird; anteanus würde ich da lieber zu antea ziehen, und zwar die bildung in|4| eine zeit legen wo antea schon anzi̯̣a oder ähnlich lautete. – Noch eine bemerkung zu ps in meiner rom. gram. „Nicht klar“19 ist mir nicht der wandel von ps > us an sich, sondern der wandel von ps > usaufeinemgebiete, wo sonst ps > is regel ist; und was mir bei ps > is auffallig war, das ist die behandlung einer p verbindung wie i-verbindung auf einem gebiete, wo pt > t. „Nicht ganz klar“ dürfte daher in dem betreffenden § meine ausdrucksweise sein!

Für das neueste heft Ihrer kreol. Stud.20 besten dank: vorlaufig habe ich es freilich nur zu den anderen gelegt, bis ich für den 2. bd. meiner gramm.21 das kreol. bearbeite. So sehr mir eine vollige trennung des aussereuropäischen romanisch vom europ. widerstrebt, so halte ich es doch für wichtiger, in einem besonderen kapitel die lautlichen und morphologischen erscheinungen der verschied. mischsprachen zu besprechen, nicht zl. die konjug. unmittelbar der rom conjug. [zu] verleiben.

Hochachtungsvollst

Ihr ergebenster

W. Meyer-Lübke.


1 Die Datierung dieses Briefes ist laut Wolf (1993: 273): [1890], also unsicher. Da ML auf Schuchardts Artikel Prov. altfranz. anceis (1891, s. FN 241) eingeht, muss der Brief frühestens 1891 geschrieben worden sein.

2 ML befindet sich also bereits an der Universität Wien, wo er von 1890 bis 1915 Professor für Romanische Philologie war. 1892 wurde er zum Ordinarius ernannt (vgl. Gamillscheg 1937: 391 ). Die Anrede „College“ weist wahrscheinlich auf den gleichen Rang hin.

3 Vgl. Meyer-Lübke (1890a: 287f.); I. Kapitel: Vokalismus. Anlautvokale: Dissimilation und Assimilation. § 361. Palatale.

4 Schuchardt, Hugo. 1868. Der Vokalismus des Vulgärlateins. Leipzig: Teubner. [Archiv-/Breviernummer: 002c]. Schuchardt (1868: 98) geht von Ienuarius als Grundform für afrz. jenvier, nfrz.janvier aus.

5 Vgl. Schuchardt, Hugo. 1881-1883. Bemerkungen über die lateinischen Lehnwoerter im Irischen. Erster Theil: Zur Lautlehre. Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades bei der philosophischen Fakultaet der Universitaet Koenigsberg von Bruno G. Güterbock. Revue Celtique 5: 489–495. [Archiv-/Breviernummer: 144]. Schuchardt führt darin vulgärlat.janarius, um den Schwund des u in altir. enair und kymr.ionawr zu erklären und vulgärlat. jenarius als Etymon für enair, an (vgl. Schuchardt 1881-1883: 491-492).

6 Schuchardt, Hugo. 1891. Prov. altfranz. anceis u. s. w. ZrP 15: 237-240. [Archiv-/Breviernummer: 244].

7 Er spielt auf folgende Arbeit an: Meyer-Lübke, Wilhelm. 1887. Altfranzösisch anceis. ZrP 11: 250-252.

8 Thomas, Antoine. 1885. Mélanges étymologiques. Ainz, puis, anceis, anceissor, prov. se. Romania 14: 572-579. Antoine Thomas (1857-1935), Philologe und Romanist, lehrte von 1889 bis 1933 an der Sorbonne. Er stand in brieflichem Kontakt mit Schuchardt. Seine Briefe an letzteren liegen im Schuchardt-Nachlass ( 11658-11668).

9 Schuchardt (1891: 238) in Bezug auf Meyer-Lübke (1887) (s. FN 242) stellt die Forderung: „[...] wichtiger als zu wissen woher ein Wort kommt, ist es zu wissen wie es daher kommt, da nur so die Einzelerscheinung als Ergebnis der allgemeinen Vorgänge erkannt wird.“

10 Meyer-Lübke, Wilhelm. 1884. Beiträge zur rom. Laut- und Formenlehre. I. Die Behandlung tonloser Paenultima. ZrP 8: 205-242; hier S. 217.

11 Gröber, Gustav. 1884-89. Vulgärlateinische Substrate romanischer Wörter. Archiv für lateinische Lexikographie und Grammatik. Es könnte hier die Ausgabe von 1886 gemeint sein, worin Gröber auf S. 504 ital. flo̜scio auf frz. floche zurückführt.

12 Es folgt ein Leerraum. Ist ML das nachzuschlagende Wort nicht eingefallen?

13 Vgl. Schuchardt (1891: 239).

14 Rigutini, Guiseppe & Fanfani, Pietro. 1875. Vocabolario italiano della lingua parlata. Firenze: Tipografia Cenniniana.

15 Petrocchi, Policarpo. 1884-1890. Nòvo dizionàrio universale della lingua italiana. 2 Bde. Milano: Fratelli Treves.

16 Tommaseo, Niccolò & Bellini, Bernardo. 1861-1879. Dízíonario della lingua italiana nuovamente compilato. Turin: Società l'Unione Tipografico-Editrice.

17 Hat sich ML verschrieben? In der Divina Commedia (Purgatorio, Canto Secondo) lautet es Vers 9: “per troppa etate divenivan rance.” (zitiert aus der Online-Ausgabe der Società Dantesca Italiana). Vgl. REW (1911), 5822 s.v. narrang´ pers. ‚Apfelsine’, […] Ablt.: ital. rancio; ML verweist hierbei u. a. auf Diez’ Wörterbuch.

18 Als „rom. *propius“ in Schuchardt (1891: 240) angegeben.

19 Vgl. Meyer-Lübke (1890a: 385, § 458).

20 Schuchardt, Hugo. 1891. Beiträge zur Kenntnis des englischen Kreolisch III. Das Indo-englische. Englische Studien. Organ für englische Philologie unter Mitberücksichtigung des englischen Unterrichtes auf höheren Schulen 15: 286–305. [Archiv-/Breviernummer: 241].

21 Wird erscheinen als: Grammatik der Romanischen Sprachen. Romanische Formenlehre (= Meyer-Lübke 1894a). Das Kreolische wird in diesem Band nicht behandelt. (In der vorl. Arbeit wurde als Referenzwerk ebenso die französische Übersetzung dieses zweiten Bandes (= Meyer-Lübke 1895b ) verwendet).

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