Wilhelm Meyer-Lübke an Hugo Schuchardt (01-07223)

von Wilhelm Meyer-Lübke

an Hugo Schuchardt

Zürich

09. 12. 1884

language Deutsch

Schlagwörter: Universität Zürich Zeitschrift für romanische Philologie Literaturblatt für germanische und romanische Philologielanguage Lateinlanguage Italienischlanguage Französischlanguage Spanisch Förster, Wendelin Florenz Portugal Spanien Italien Schuchardt, Hugo (1883) Sweet, Henry (1877) Foerster, Wendelin (1879) Schuchardt, Hugo (1884)

Zitiervorschlag: Wilhelm Meyer-Lübke an Hugo Schuchardt (01-07223). Zürich, 09. 12. 1884. Hrsg. von Magdalena Rattey (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9292, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9292.


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Zürich Stadelhoferstrasse 21.
9 XII 84.

Hochgeehrter Herr Professor!

Sie gestatten mir wol, unverzüglich Ihren freundlichen brief zu beantworten. 1Bei der isolirten stellung in der ich hier bin, benutze ich gerne jede gelegenheit zu schriftlichem gedankenaustausch.2 Aus Ihren bemerkungen3 ersehe ich, dass ich es versäumte, Ihnen meine besprechung von Marx4 zu schicken, in der ich mit der alten ansicht von dauer und klang gebrochen – allerdings nicht so voellig, wie in einem schon längst für R. Z.5 bereiten aber nicht abgeschickten aufsatz über die lat. part. prät. (contra Osthoff M. U. IV6 ) und in meinem colleg. der aufsatz in Groebers Zs.7 datirt z. t. aus dem sommer ʼ83, wo ich erst in zweifeln und unklaren versuchen zu neuer auffassung herumtappte. Damals brachten Ihre bemerkungen zu Marx8 den noetigen lichtstrahl und ich habe, soweit es meine anderweitig sehr in anspruch genommene zeit erlaubte, die sache nie ganz aus dem auge verloren. Jetzt will ich so bald wie moeglich mit verdoppeltem eifer an den gegenstand, ob ich gleich fürchten muss, eine bearbeitung meinerseits werde bei weitem nicht das zu tage foerdern, was Ihnen moeglich wäre. |2| Aus meinem artikel uber Marx sehen Sie, dass ich quantitative differenzen zwischen ę̆ und ẹ̄ sehr weit hinaufrücke. Im osk. zeigt sich ähnliches: ē ist ẹ̇ bezw. geschr. i͑i͑, i͑, ĕ dagegen ę geschr. e; ein ē das durch ersatzdehnung entstanden ist, ę̄ geschr. ee. lat. beispiele sind noch: ę̄rigo, ręmus (ital.ręmo) nǭdus (ital., mail., aber neap. nutē̥[#]?9 ) aus nozdus = nestel. Aus * candẹ̄sla entstand candẹ̄la, aus quaeręslaquaerę̄la: letzteres wird durch -ęlla angezogen: quaeręlla, umgekehrt dialectisch stẹ̄la statt stẹlla nach analogie der subst. auf ẹ̄la. Und so noch mehr. Die zahlreichen ausnahmen weiss ich nur erst zum teil zu erklæren: cọrte(m) = cọhǫrtem (aus cũhortem?); in cẹ̄na, sẹ̄ni u. a. ę̄n zu ẹ̄n? Dass ę̆n bleibt, spricht nicht dagegen. Weshalb aber fę̄num neben fẹ̄num? Aber ū aus ŭ, ī aus ĭ decken sich mit altem ū ī, woraus folgen würde, dass ī ĭ ū ŭ länger gleiche qualität behielten als ē̆ ō̆. – frīgĭdus rom. frẹ̆gdus ist verzweifelt. Wäre nur die etymologie klar. 10 φρίσσω ist wegen κ schwierig; ̔ρȋγος wegen sr- fr-, lit.11drùgis [sb.] drŭgati, woran ich sonst dachte, wegen des vokals. Läge in frīgĕre mehr der begriff des brennens, so würde ich nicht zögern, beide zu verbinden. Es |3| musste aber aus *frị̩̩̆́sgorfrị̄gor, aus *frị̆sgẹ̆sdós frị̆gẹ̆dós später frĭ̜́gĭdus entstehen: frị̄gidus stünde unter dem einfluss von frị̄gor frị̄gẹ̄re. Sei dem wie ihm wolle, ich sehe keine andere moeglichkeit, als kürzung des ī in tonloser silbe zur zeit, da ī und ĕ noch qualitativ gleichklangen. – In grossen zügen stelle ich mir die sache so vor:

I per.12 : nur quantitative differenzen ẹ̆ ẹ̄; accent frei (indogerm.), die betonte silbe stark hervorgehoben.

II per. gleichmässigere verteilung des expirationstreibers auf alle silben, accentrevolution. Einzelne daten: man sprach frigesdós frigesdṓ aber frigésdnis, woraus frigidus frigḗdnis (davon nächstens in R. Z.)13 , ferner brẽhvís brĕhvís brĕvís; delióm dolióm dólium; sprófecio proféctus. In diese zeit fällt, meine ich, der erste anfang der qualität. unterschiede: es müssen also alle daten der accentänderung gesammelt – es giebt deren noch manche – und damit die aus dem rom. sich ergebenden qualit. verglichen werden. – Die alten vokale waren bisher wol „narrow“, mit Sweet14 zu reden; in der

III per., wo sich der klass. accent fixirt, gewinnen die consonanten noch mehr oberhand über die vokale als in der II., die folge davon: nur die langen bleiben „narrow“, die kurzen werden „wide“, wodurch die, bislang nur unbedeutende qualit. differenz wächst also ē = ẹ, ĕ = ę.

IV per. Die Wzvokale treten wieder stärker hervor, so zwar, dass alle vokale in offener silbe gleiche davor haben, entsprechend alle in geschlossenen.

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Dadurch erhält man: ẹ̄ = ẹ̄; ę̆ = ę̄; ẹ̄ ˗̆ ˗̆ = ẹ̆ ˗̆ ˗̆ ę̆ ˗̆ ˗̆ = ę̆ ˗̆ ˗̆.

In folge der längeren dauer der aussprache werden bei ę̄ die stimmbänder wieder straffer gespannt, der laut wird „narrow“, es verbindet sich aber mit der stärkern spannung leicht eine rasche hebung der zunge, die einen ilaut15 erzeugt, daher ę̄ zu ię̀. In geschlossener silbe unterbleibt folgerecht die diphthongirung. – Diese reihe setzt unter anderem voraus, dass pik. íe = frz. ię̀ erst secundär ist, eine ansicht, für diese Sie mir wol Ihre unterstützung gegen die meisten forscher nicht versagen. Oder wie will man sonst den diphthongen ię mit offenem ę erklären? Soll iẹ wirklich durch dissimilation zu ię werden? Ital. pięno pięgo darf man kaum dafür anführen. Wenn im span. auch ę ˗̆ ˗̆ diphthongirt, so hängt das wol mit der kürzung gedehnter consonanten im sp. zusammen+(+[Am linken Rand entlang der Längsseite] Auch dass ā̆ keine qualitativen differenzen zeigen, erklärt sich bei dieser reihenfolge ganz einfach.). Ob sich nun zeitbestimmungen für die verschiedenen perioden finden, weiss ich nicht. Ja ich bin im ungewissen, wo wir die gemeinvulgäre periode ansetzen sollen. Ich behauptete neulich, der florentiner dialect sei nur um wenige generationen jünger als die gründung von Florenz und erregte damit ziemliches ärgerniss. – Untersuchungen des vokal. fordern auch genaue kenntniss des konsonantismus und des gegenseitigen verhältnisses: erst so kann man zu allgemeinen sätzen, zu den letzten triebfedern gelangen. Aber wie soll man das erreichen, wenn die hulfsmittel so karg sind? Auch der umlaut (aber nicht in Foersters sinne16 ) kommt in betracht; zu den gebieten, die den tonvokal durch folgendes i u |5| bedingt sein lassen, gehoert noch Portugal. Für Spanien haben mich weder Foerster17 noch Cornu18 überzeugt. Alle diese punkte für jedes einzelne gebiet an sich und wieder für alle zusammen zu untersuchen, und dann das individuelle und das gemeinsame mit richtigem takte (und mit steter berücksichtigung der ethnologischen fragen) zu scheiden, das scheint mir die aufgabe, an die ich wol schon hie und da dachte, vor der ich aber, im bewusstsein meiner schwachen kräfte, stets wieder zurückschreckte. Ihre freundliche aufforderung giebt mir wieder mehr mut.

Von wichtigkeit sind natürlich auch die griechischen worte im lat., worauf ich jüngst hingewiesen19 , die lat. im griech. germ. alb. slaw. kelt. Dass übrigens ir. cuchenn übergang von īn̆ zu ĭn̄ zeige, wie man behauptet, vermag ich nicht zu glauben: ī in tonloser silbe muss im kelt. wegen des -a zu e werden, das römische -[#]n ˗̆ wurde gesprochen wie das kelt. nm = nd, d.h. nicht aspirirt.

Nun noch etwas anderes: nt wird zu nd im alb. ngr. südostital. bis hinein in die Abruzzen. Die erscheinung, die mit der behandlung des lat. nt ins ir. wol nicht zusammenhängt, mutet uns auf romanischem gebiete so sonderbar |6|an, dass man sie unwillkürlich auf fremden einfluss zurückfuhren moechte. Folgen wir Helbings [sic] ausführungen20 , wonach die Japygerstamme verwandt sind mit den Illyriern (Albanesen) so liesse sich die sache wol erklären. Die Japygen stemmten sich hartnäckig gegen die roem. herrschaft, und zogen sich mehr und mehr noerdlich in die berge zurück. Schliesslich konnten sie sich der romanisirung nicht entziehen, sie druckten aber der roem. sprache noch den stempel ihrer nationalitat auf. – Ich verhehle mir das gewagte dieser combination nicht, ich bemerke aber 1. es lassen sich noch andere sprachliche beweise bringen; 2. die annahme, das osk. zeige erweichung der tenues nach nasalen, stützt sich auf ein einziges zweifelhaftes beispiel; 3. die dialektischen unterschiede sind derart, dass sie in der kurzen zeit von nicht zwei jahrtausenden nicht durch die bloss spontane differenzirung koennen entstanden sein. – An Italiens ostküste berührt sich dann mit diesem illyro-rom. das kelto-rom; ebenso in alter zeit Kelt. u. Illyrier im nordwesten der Balkanhalbinsel – so eroeffnen uns die heutigen sprachlichen verhältnisse weitgehende perspectiven. –

Ich breche hier ab. Zuvörderst lag es mir daran, Ihnen zu zeigen, dass Ihre privatmitteilung21 und Ihre allen zugänglichen äusserungen bei mir nicht auf ganz unfruchtbaren boden gefallen sind. 22Ob die früchte entsprechen, wird die zukunft lehren. Vielleicht sehen Sie in dem, was ich jetzt vorgebracht, noch die unreifen erzeugnisse einer jugendlichen phantasie; sollte ein guter kern darin sein – um so besser für die wissenschaft.

Mit grösster hochachtung

Ihr dankbarster

W. Meyer.Erst ab dem Jahr 1889, als er Hermine Lübke heiratet (vgl. Richter 1936: 197, FN 1), wird der Absender „Wilhelm Meyer-Lübke“ heißen.


1 Es könnte sein, dass Schuchardt die Korrespondenz initiierte. Außerdem könnten vorhergehende Briefe Meyer-Lübkes fehlen.

2 Meyer-Lübke (wenn es sich nicht um eine Literaturangabe handelt, im Folgenden abgekürzt als ML) befindet sich zu dieser Zeit in Zürich, wo er seit Herbst 1884 als Privatdozent an der Universität (die damalige Hochschule Zürich) lehrt (vgl. Jud 1937: 341 ).

3 Es ist nicht klar, worauf sich ML hier bezieht. Entweder handelt es sich um Bemerkungen in einem Brief oder einer Veröffentlichung Schuchardts.

4 Meyer-Lübke, Wilhelm. 1884. Marx, Anton, Hülfsbüchlein für die Aussprache der lateinischen Vokale in positionslangen Silben. Mit einem Vorwort von Franz Bücheler. Wochenschrift für klassische Philologie I (34): 1068-1074 . 1901 erscheint eine Rezension MLs zu Marx’ dritter Auflage und zwar in der Deutschen Literaturzeitung (vgl. Angabe in Moldenhauer 1938 ). Die Marx-Besprechung aus dem Jahr 1884 fehlt im Verzeichnis der Veröffentlichungen von Wilhem Meyer-Lübke erstellt durch Moldenhauer (1938).

5 „Romanische Zeitschrift“, MLs übliche Abkürzung für die Zeitschrift für romanische Philologie (hier im Text abgekürzt als ZrP), gegründet 1877 und herausgegeben von Gustav Gröber.

6 Brugmann, Karl/ Osthoff, Hermann. 1881. Morphologische Untersuchungen auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen. Band IV. Leipzig: Hirzel.

7 Scheinbar kam es nicht zur Veröffentlichung des Artikels „contra Osthoff“, zumindest nicht in der ZrP.

8 Schuchardt, Hugo. 1883. [Rez. von:] Marx, Anton, Hülfsbüchlein für die Aussprache der lateinischen Vokale in positionslangen Silben. Mit einem Vorwort von Franz Bücheler. Ltbl. f. germ. u. rom. Philol. 4: 267–268. [Archiv-/Breviernummer: 159].

9 Vgl. REW (1911) 5983 s.v. nŭcleus ‚Kern’ [...] neap. nuttse̥. Letzteres ist nicht die obige Lesart. Es ist möglich, dass ML hier nodus (REW 5948) und nucleus verwechselt. Statt nōdus vor der Klammer sollte es vermutlich nŭcleus heißen.

10 Vgl. REW (1911) 3512 s.v. frīgidus ‚kalt’, 2. fri̜gidus.

11 Wofür diese Abkürzung steht, konnte bisher nicht ermittelt werden.

12 Abkürzung für „Periode“.

13 Solche Überlegungen finden sich in Meyer-Lübke (1885).

14 Henry Sweet (1845-1912), englischer Sprachwissenschaftler. Er war maßgeblich an der Ausbildung der Phonetik als linguistische (Teil-)Disziplin beteiligt, deren Grundstein er mit seinem Handbook of Phonetics (1877) legte. Sweet und Schuchardt standen in Briefkontakt zueinander; sieben Briefe Sweets (11466-11472) befinden sich im Schuchardt-Nachlass. Zur Webedition der Korrespondenz vgl. Hödl (2015) .

15 i-Laut.

16 Vgl. Foerster, Wendelin. 1879. Beiträge zur romanischen Lautlehre. Umlaut (eigentlich Vokalsteigerung) im Romanischen. ZrP 3: 481-517. Wendelin Foerster (1844-1915), Romanist, beschäftigte sich vor allem mit altfranzösischer Literatur (vgl. Romanistenlexikon). Er war MLs Vorvorgänger in Bonn: so hatte er den Lehrstuhl für Romanische Philologie als Nachfolger F. Diez‘ von 1876 bis 1908 inne. Foerster und Schuchardt standen in Briefkontakt zueinander, vgl. die Briefe Foersters im Schuchardt-Nachlass ( 03091-03106).

17 Vgl. Foerster (1879: 507). S. FN 207.

18 Cornu, Julius. 1884. Mélanges espagnol. Romania 13: 285-314 . Zu Cornu vgl. FN zu 17-07226 in der vorliegenden Korrespondenz.

19 So in: Meyer-Lübke, Wilhelm. 1884. Aus lateinischer Sprachwissenschaft. Ltbl. f. germ. u. rom. Philol. 5: 182-189.

20 Helbig, Wolfgang. 1876. Studien über die älteste italische Geschichte. Hermes: Zeitschrift für klassische Philologie 11: 257-290 .

21 Womöglich ist damit der diesem Brief vorhergehende, wofür sich ML eingangs bedankt, gemeint.

22 Schuchardt (1884a) stellt im Ltbl. f. germ. u. rom. Philol. in einer Berichtigung klar: „Herr W. Meyer glaubt (Ltbl. 1884 S. 186), ich halte Albanesen und Iren für besonders nahe verwandt. Behüte! Ich sagte Rev. Celt. V, 489: „ – der Iren (und ebenso der ihnen nahe verwandten Bewohner Albaniens)“; Albanien = Schottland. Mit den Vorfahren der Albanesen waren ja die Berührungen der römischen Welt gewiss keine dürftigen. (Graz, 17. Mai 1884)“.

23 Erst ab dem Jahr 1889, als er Hermine Lübke heiratet (vgl. Richter 1936: 197, FN 1), wird der Absender „Wilhelm Meyer-Lübke“ heißen.

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