Hugo Schuchardt an Ernst Kuhn (14-HSEK08)
von Hugo Schuchardt
an Ernst Kuhn
13. 05. 1873
Deutsch
Schlagwörter: Romanische Studien Blanc, Ludwig Gottfried Böhmer, Eduard Witte, Karl Arbois de Jubainville, Henry d´ Halle
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Ernst Kuhn (14-HSEK08). Halle, 13. 05. 1873. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9236, abgerufen am 03. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9236.
Halle a/S 13.5.73 [am linken Rand eine bunte Tulpe]
Lieber Kuhn!
Es ist für mich ein erhebendes Gefühl an derselben Stätte, an welcher Sie längere Zeit gewirkt haben, den Samen der Wissenschaft in junge wißbegierige Gemüther zu streuen. Ich bin mit dem Anfang des Semesters sehr zufrieden; ich habe jetzt, nachdem ich schon ein halbes Dutzend mal gelesen habe, in meinem privatum etwa 16. Bei der Aufnahme habe ich meinen violetten Talar mit nie gesehener Würde getragen, habe mit Andacht auf den König und die Verfassung geschworen und erklärt, Boden und Luft von Halle schienen für die Romanischen Studien günstig zu sein, da diese verschiedene Male aus der generatio aequivoca ( Blanc, Boehmer, Witte)1 hervorgegangen wären. Im Übrigen habe ich mich betragen wie es einem getreuen und geschickten Königlichen Diener und Professor „wohl ansteht und gebührt“. Ich wohne in einer sehr „stillen“ Gegend, wo immer viel Kinderlärm ist, parterre in demselben Haus, wie Gosche2. Am Sonnabend Nachmittag wurde ich so schläfrig, daß ich ein paar Tage förmlich Schlafsucht gehabt habe; gestern wachte ich wieder auf. Die Hallenser Luft soll auf die Ankömmlinge eigenthümlich wirken; Kraus3 meint, man befinde sich immer zunächst |2| ein bis zwei Monate hundsmiserabel. Ich gedenke nächstens meine Brust wieder einmal im Leipziger Abendthau zu baden.
Doch genug von mir; wie geht es Ihnen, leichtsinniges Huhn?4 Neulich sprach ich mit Ihrem Freunde Dochow5; er bestätigte mir, was ich schon lange geahnt hatte, daß der Hang zum Trunke in Ihrer frühesten Kindheit wurzelt.6 Ja, ja, des Lasters Weg ist Anfangs breit --- Verzeihen Sie, daß dieser Briefbogen durch eine Tulpe geziert ist; es soll dies durchaus keine Anspielung auf Sie sein,7 ich weiß Sie trinken nur Ganze (besonders bei den jetzigen Preisen der Tulpe!). Aber ich hatte gerade keinen andern Briefbogen, Ist die Paligrammatik schon über die Darstellung des Alphabets hinaus?8 Dann gratulier ich. Grüßen Sie die Bekannten von mir, speziell die katzavische Rotte9 Paul10 und Braune11 ; selbst Hildebrand12 spricht nur mit Achselzucken und zum Himmel gewandten Blick von Ihnen:
Wird nun meine lat.-rom. Deklination bald gedruckt? Ich hoffe, ich habe mich über Arbois de Jubainville höflich geäußert; er schrieb mir neulich sehr freundlich und beklagte sich über Ebel 13, der ihn irgendwo schnöd abgefertigt hat. Schreiben Sie mir bald!
Der Ihrige
Hugo Schuchardt
1 Generatio aequivoca ist ein anderer Name für „Urzeugung“ (auch „Jungernzeugung“), also eine „Entstehung aus dem Nichts“.
Ludwig Gottfried Blanc (1781-1866), Eduard Boehmer (1827-1906) und Karl Witte (1800-1883), Begründer der Halleschen Romanistik.
2 Richard Gosche (1824-1889), seit 1860 Prof. für morgenländische Philologie in Halle.
3 Gregor Kraus (1841-1915), deutscher Botaniker in Halle; vgl. HSA 05769-05774.
4 Wieder einer von Schuchardts Scherzen (Kuhn : Huhn).
5 Adolf Dochow (1844-1881), seit 1872 Strafrechtsordinarius in Halle.
6 Abermals einer von Schuchardts „gewagten“ Scherzen? Weil Kinder möglicherweise „mit der Flasche“ aufgezogen werden?
7 Tulpe ist ein gewöhnlich 0,3 l fassendes Bierglas.
8 Kuhn, Beiträge zur Pali-Grammatik, Berlin: Dümmler, 1875.
9 Vermutlich der von Hildebrand gegründete 1867 gegründete Germanistenzirkel „Vogelweide“. Darauf deutet der Bestandteil „avis“ im Namen, obwohl das Wort insgesamt unklar ist.
10 Hermann Paul (1846-1921), Germanist, 1870 in Leipzig promoviert, 1872 habilitiert.
11 Wilhelm Braune (1850-1926), Germanist, 1872 in Leipzig promoviert, 1874 habilitiert.
12 Heinrich Rudolf Hildebrand (1824-1894), Leipziger Germanist.
13 Hermann Ebel (1820-1875), deutscher Keltologe. Vgl. HSA 00153.
Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen (Sig. HSEK08)