Hugo Schuchardt an Ernst Kuhn (01-HSEK01)
von Hugo Schuchardt
an Ernst Kuhn
09. 02. 1872
Deutsch
Schlagwörter: Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiet des Deutschen, Griechischen und Lateinischen Italische Sprachen Latein Romanische Sprachen
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Ernst Kuhn (01-HSEK01). Gotha, 09. 02. 1872. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9223, abgerufen am 10. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9223.
Gotha 9 Febr. 72.
Verehrter Freund!
Eine erneute Durchsicht von Corssens Werk1 hat mich zu einem anti-corssenschen Exkurs angeregt, auf den ich früher schon ganz verzichtet hatte. Es handelt sich dabei nicht sowohl um Einzelheiten, sondern um die prinzipielle Auffassung des Verhältnisses von Lateinisch zu Romanisch. Corssen erblickt hier keine organische Fortentwicklung, sondern den Durchgang durch ein Stadium der höchsten Verwirrung, durch ein wüstes Chaos.
Würde die Zeitschrift f. v. Sprchf. meiner Polemik einen Platz gönnen? Denn eine Polemik (natürlich eine anständige) wird es wohl werden, ich gestehe es. Ich würde mich gern ganz auf Thatsachen beschränken; leider macht aber dies Corssen selbst durch seine eigenthümliche Darstellung, sein Mißverstehen und Verdrehen fremder Aussprüche, vor allem seine mehr ästhetischen, als linguistischen Ausdrücke (wie grobes |2| Ohr, erschlaffende Einwirkung, matte, dumpfe Laute u dgl.) unmöglich. Da nun aber keineswegs Jeder die Widersprüche und Schwächen des Corssenschen Buchs selbst entdecken wird, anderseits aber das Ansehen desselben ein so bedeutendes ist, so wird eine solche Polemik auch dem, der sonst Nichts von Polemisiren wissen will, nicht unberechtigt erscheinen. Durch Corssen wird an den Grundpfeilern der romanischen Linguistik gerüttelt.
Glauben Sie nicht, daß ich Corssens Leistungen irgendwie unterschätze. Ich glaube zwar, daß er auch in manchem anderen Punkte, wie Sie besser werden beurtheilen können, nicht ganz frei von Irrthum und Willkür ist, betrachte aber doch seine Verdienste um die lateinische Sprachwissenschaft als hervorragende und höchst anerkennenswerthe. Anderseits liegt mir keineswegs daran, die Schwäche meiner Jugendarbeit verdecken oder läugnen zu wollen; es sind ihrer leider genug. Im Uebrigen kenne ich Corssen persönlich und bin durchaus von keiner bitteren Stimmung gegen ihn beseelt.
|3|Es versteht sich von selbst, daß Sie, bevor Sie Einsicht in den Aufsatz selbst genommen haben, keine bestimmt bejahende Antwort geben können; ich wollte mich nur vergewissern, ob ich überhaupt in der Hoffnung, an Ihrer Hand ans Tageslicht zu treten, meine Arbeit vollenden könnte.
Mit herzlichstem Gruße
ganz der Ihrige
Hugo Schuchardt
Wollen Sie die Güte haben, mich mit einer baldigen Antwort zu erfreuen?
1 Wilhelm Corssen, Über Aussprache, Vokalismus und Betonung der lateinischen Sprache, Leipzig 1868-70, 2 Bde. Corssen hatte Schuchardts Vokalismus genau gelesen und nimmt immer wieder Bezug darauf. Kein Nachweis für eine Rez.; vgl. dazu aber den Brief Schuchardts (16.7.1872) an August Friedrich Pott ( 01_Yi-_5_l_S_1221). Corssen (1820-1875), Klass. Philologe u. Sprachforscher, der sich auf die italischen Sprachen konzentrierte. Vgl. Schuchardt an Adolfo Mussafia (HSA, Brief 5-SM3), Brief vom 30.4.1870.
Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen (Sig. HSEK01)