Johann Huemer an Hugo Schuchardt (01-04903)

von Johann Huemer

an Hugo Schuchardt

Wien

16. 05. 1881

language Deutsch

Schlagwörter: language Vulgärlatein

Zitiervorschlag: Johann Huemer an Hugo Schuchardt (01-04903). Wien, 16. 05. 1881. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2021). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9198, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9198.


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Wien, d. 16. Mai 1881.

Hochgeehrter Herr Professor!

Durch Herrn Prof. Hartel1 aufgemuntert nehme ich mir die Freiheit in einer wissenschaftlichen Frage mich an Sie als Autorität zu wenden. Ich habe in der hiesigen Hofbibliothek einige Blätter gefunden, die ein Stück eines Grammatikers enthalten. 2Aus mehreren Indicien entnehme ich, daß der Verfasser ein Gallier gewesen, der in seinem Provinciallatein schrieb. Die Blätter enthalten zum Theil vulgärlateinische Formen, daneben viel neues und mir jetzt noch unverständliches z. B. das Wort pada |2| Abl. hac moda, perfendiant u. a.

Aus einer Stelle glaube ich einen Schlüssel zur Lösung mancher Fragen zu finden, um derentwillen ich diese Zeilen Ihnen zu schreiben wage. Die Stelle heißt: De potestate (sc. litterarum) autem quia magna ex parte legestum est bigerro sermone clefabo.

Fast scheint es als nenne hier der Verfasser seinem Dialekt, denn bigerro erinnert an Bigerricus … clefare ist den Lexicis unbekannt. Erlauben Sie mir also gütigst die Frage, was Sie von dieser Stelle halten, von der aus ich auch den Geburtsort oder doch das Vaterland des Grammatikers abzuleiten versuchen möchte.

Um noch eine Stelle mitzutheilen:

Ita suffonitur id ē supponetur. nec indi mam mas fensudae. H autem dicendum est quod semper inspirat nunc ad fortitudinem nunc ad notatonem tantum. Nam cum |3| semiuocalem praecesserit F solum sonum pariter mutabunt ut H faescon et faciunt p. pro se si uero mutam c uel t uel p suum sonum nonamittit ut h cofida h. tronus hplanx u.s.w.

Selbst angenommen, daß viele und grobe Schreibfehler in einzelnen Wörtern enthalten sind, treten doch die Formen: faecson, cofida u. a. in einem bestimmten, fremdartigen Idiome auf, die der Grammatiker aus der Landessprache in seine lateinische Grammatik aufgenommen haben mag.

Ich glaube ein nicht uninteressantes Stück aus dem Spätlatein vor mir zu haben; sollten Sie mir eine Aufklärung nicht vorenthalten, so fühlte ich mich zu großem Danke verpflichtet.

Indem ich nochmals bitte meine Freiheit zu entschuldigen, bin ich hochachtungsvoll

Ew. Wolgeboren

ganz ergebenster

Dr. Joh. Huemer
(am Gymnasium im IX. Bezirk Wasagasse)


1 Wilhelm von Hartel (1839-1907), österr. Klass. Philologe, seit 1873 Ordinarius in Wien; vgl. HSA 04418-04421.

2 Vgl. Huemer, Mittellateinische Analekten, Wien 1882.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 04903)