Adolf Dirr an Hugo Schuchardt (01-02347)
von Adolf Dirr
an Hugo Schuchardt
11. 01. 1903
Deutsch
Schlagwörter: Universität Leipzig Georgisch
Udisch
Französisch
Russisch
Kaukasische Sprachen
Tatarisch
Tabassaranisch Lopatinskij, Leo von Erckert, Roderich von Tiflis Dirr, Adolf (1904) Dirr, Adolf (1903) Erckert, Roderich von (1895)
Zitiervorschlag: Adolf Dirr an Hugo Schuchardt (01-02347). Temir, 11. 01. 1903. Hrsg. von Bernhard Hurch (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9175, abgerufen am 03. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9175.
Temir - Chan - Schura,
den 11/24. Jan. 1903.
Sehr geehrter Herr Professor!
Bei meinem letzten Aufenthalt in Tiflis erhielt ich durch die Güte des Herrn Lopatinsky1 einige Ihrer Artikel, nach denen ich schon lange umsonst gespürt hatte. Dieser Umstand veranlasst mich, an Sie zu schreiben, denn wir ackern beide auf demselben Felde. Ich wurde vor einer Reihe von Jahren schon durch linguistische und ethnographische Studien auf den Kaukasus hingewiesen. Als sich vor zwei Jahren eine Möglichkeit bot, im Lande selbst meine Studien zu treiben, packte ich mein Bündel und fuhr nach Tifllis, wo ich mich zunächst mit dem Grusinischen und dem Udischen beschäftigte. Ersteres habe ich in einer gegenwärtig im Druck befindlichen Anfangs-Grammatik 2 behandelt, letzteres aber breiter und wohl so dass |2| meine Arbeit ( französisch geschrieben)3 den sehr fehlerhaften “Versuch” Schiefners 4 vollständig ersetzt. Mein Manuscript hat bis jetzt 250 Seiten, darunter 80 Seiten echt udischer Texte (die von Schiefner gegebenen sind mit Ausnahme der Lieder keinem Udiner verständlich was ich in Tiflis und Warthaschen5 mehrere Male konstatiert habe.) Seit meiner Ankunft in Schura habe ich mich hauptsächlich an die daghestanischen Idiome gemacht und schon beträchtliche Materialien für die Kenntnis des Hürkilinischen (Dialekt von Xoḑal–Maχi) 6 und des Kumükischen (eigentliches Kumükisch) 7 zusammengebracht; (Anm.: Also andere Dialekte als die von Uslar 8 behandelten) ferner Materialien über das Mitteltschetschenische und Inguschische. Gegenwärtig stehe ich in Unterhandlungen um einen Tabasseraner hierherkommen zu lassen, um endlich einmal Zuverlässiges über diese Sprache zu erfahren (es existierte ein Manuscript Uslar’s das aber leider definitiv verloren gegangen ist).
Es ist jammerschade, dass sich die Russen so |3| blutwenig um den Kaukasus kümmern, wenigstens in dieser Beziehung. Was wüssten wir, wenn Uslar nicht gelebt hätte! Und es ist wirklich höchste Zeit wenn noch gerettet werden soll, was noch zu retten ist. Das Tatarische ( Aderbeidžanisch vom Süden her und Kumükisch vom Norden her) dringt siegreich überall ein und vor ihm schwinden die eingebornen Sprachen. Am ehesten werde wohl Udisch und Tabassaranisch aufgehen im Tatarischen; ersteres weicht jeden Tag mehr zurück und letzteres war zu Uslar’s Zeiten schon im Verfall begriffen.
Ich beabsichtige mit meinen Arbeiten haupsächlich unsern Abendländlern zuverlässiges und zugänglicheres Material zu verschaffen als das in russischen Quellen zerstreute es ist. Es ist ein Elend und eine Schande für unsere “europäische” Wissenschaft, dass man sich so viel auf das traurige Buch Erckerts verlassen muss. 9 Darin Wandel zu schaffen habe ich mir als nächste Aufgabe gestellt.
Die eigentümlichen Verhältnisse in denen ich hier lebe (als Lehrer an der hiesigen Realschule) legten es mir nahe mich mit den verschiedenen Sprachen gleichzeitig zu beschäftigen, da ich jeden meiner Lehrer die auch zugleich meine Schüler sind, nicht mehr als 2 Stunden wöchentlich beanspruchen darf. In den großen Ferien und schon zu Ostern wo wir drei Wochen frei sind, werde ich in den daghestanischen Bergen umherkrabbeln |4| und das gesammelte Material sichten, ergänzen und kontrollieren.
Ich darf wohl hoffen auch einmal etwas von Ihnen brieflich zu hören (Die Franzosen unter denen ich 10 Jahre gelebt habe, haben dafür einen eleganteren Ausdruck: j’éspère pouvoir vous lire bientòt) und zeichne mit dem Ausdruck meiner grössten Hochachtung
Ihr
A. Dirr.
Adr. A. M. Dirr Real’noe Učilišče Temir-Chan-Šura
1 Zu Lopatinski vgl. Fußnote 1 des Briefwechsels Leskien, bearbeitet von Johannes Mücke: Lopatinski, Leo Ritter von (geb. in Tiflis), promovierte am 22.6.1896 in absentia an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig mit dem Dissertationsthema 'Sprache und Volk der Adygen oder Tscherkessen'. Gutachter waren A. Leskien und H. Schuchardt. Im Nachlass Schuchardts haben sich 14 Schreiben von Leo von Lopatinskij (1842-1922) an Schuchardt erhalten, aus denen ersichtlich wird, dass Lopatinskij sich bei Schuchardt nach der Möglichkeit einer Promotion in absentia an der Universität Leipzig erkundigt hatte.
2 Dirr, Adolf. o.J. (1904). Theoretisch-praktische Grammatik der modernen georgischen (grusinischen) Sprache mit Übungsstücken, einem Lesebuch, einer Schrifttafel und einer Karte. Wien: Hartleben.
3 Die Arbeit von Dirr erscheint aber 1903 auf Russisch in Tiflis. 1904 wird Schuchardt sie besprechen: A.M. Dirr, Grammatika udinskago Jazika. Tiflis.
4 Franz Anton Schiefner war deutschsprachiger baltischer Sprachforscher und Ethnologe, der u. a. frühe Arbeiten zu den Kaukasussprachen vorgelegt hat (auch zu einigen anderen Sprachfamilien). Hier: Schiefner, Anton. 1862. Versuch über die Sprache der Uden. Gelesen am 12. December 1862. St. Petersburg: Eggers.
5 Eines der wenigen Dörfer, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch als udischsprachig genannt wurden.
6 Auf Uslar zurückgehende Bezeichnung für die nordkaukasische Sprache der Darginer.
7 Heute meist Kumykisch; Daghestanische Turksprache.
8 Peter Karlowitsch von Uslar (Petr Karlovič Uslar) russischer Techniker und Sprachforscher deutscher Abstammung, der nach der Mitte des 19. Jhdts. zahlreiche Veröffentlichungen zur Ethnographie und vor allem zu den Sprachen des Kaukasus vorgelegt hat.
9 Roderich von Erckert (1895) Die Sprachen des Kaukasischen Stammes: I. Theil: Wörterverzeichnis. II. Theil: Sprachproben und grammatische Skizzen. Mit einer lithographierten Sprachenkarte. Wien: Hölder.