Hugo Schuchardt Archiv

Zürich, 20.1.26.

Hochverehrter Herr Professor,

vielen Dank für Ihre mir gütigst übersandte Abhandlung über den Individualismus in der Sprachforschung ¹, die ich mit grösstem Interesse und Gewinn gelesen habe. Besonders reizvoll war mir dabei, wie sich hier Wissenschaftliches und Persönliches durchdringen. Wie sehr entbehrt doch alles, was gemeinhin als Geschichte einer Wissenschaft auftritt, dieser persönlichen Hintergründe! Und doch sind es die allein, die uns ein wirkliches Verständnis der Zusammenhänge, die pragmatische Geschichte einer Wissenschaft zu erschließen vermögen. Oft erklären sich überraschende Kombinationen nur auf diesem Wege, so pflegte mein unvergleichlicher Lehrer Windisch ² die von ihm vertretene Verbindung von Sanskritphilologie und Keltologie|2| auf die Anregung von Brockhaus ³zurückzuführen – nicht ohne uns jeweilen vor Nachahmung zu warnen!

Germanisten, klassische Philologen, Semitisten und – Mathematiker mögen es nun bedauern, daß Sie nicht einer der Ihren geworden sind; aber es war gewiß eine selten glückliche Fügung, daß Sie sich für die Romanistik entschieden, denn ich glaube, daß kaum eine andere sprachliche Disziplin eine solche Fülle von Problemstellungen ermöglicht hätte, wie sie sich dem staunenden Auge in Ihrem Lebenswerke darbietet. Wenn Sainéan ⁴ darin die Systematik vermißt, so ist ihm entgegenzuhalten, daß das Leben selbst, das Sie in Ihren Untersuchungen in seinen geheimsten Regungen so wunderbar erfaßten, ja – glücklicherweise – auch nicht systematisch ist.

Mit dem Ausdruck tiefster Verehrung begrüße ich Sie

Ihr sehr ergebener

Emil Abegg.