Anna von Zwiedineck an Hugo Schuchardt (76-13133)
an Hugo Schuchardt
05. 11. 1919
Deutsch
Schlagwörter: Zwiedineck, Rosa Kreissler, Dora Wien Italien Florenz Graz
Zitiervorschlag: Anna von Zwiedineck an Hugo Schuchardt (76-13133). Mödling, 05. 11. 1919. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2021). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9062, abgerufen am 07. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9062.
Mödling 5/11 919
Sehr verehrter u. lieber Freund
entschuldigen Sie die mangelhafte äußere Form dieser schriftlichen Arbeit, aber das Wetter ist „gräulich“ – u. ich kann nicht ausgehen – ein Briefpapier zu kaufen, – u. meine Tochter die mir aushelfen könnte, ist nach Wien gefahren. Es war so sehr mein Vorsatz Sie vor meiner Abreise noch zu besuchen, aber faute dieser elenden Wirtschaft in der ich mich befand, war ich an Kraft ausgepumpt, denn ich mußte auch noch daran denken alle Arrangements zu treffen um die von der Wohnungscommission angeordnete Einquartierung vorzunehmen. Alles in Allem ich bin erschöpft u. nur todtfroh mich 14 Tage um nichts kümmern zu müssen. So weit man das zu Stande bringt. Es ist Wahnwitz wie man hier lebt – noch viel viel schlimmer als bei uns – denn es nützt auch das Geld nichts – man gibt es hinaus u. kriegt doch nichts dafür. Mir blutet das Herz wenn ich sehe wie minderwertig meine Kinder essen – u. noch soll es immer schlechter u. schlechter werden! – Heute war ich Zeugin wie eine arme Frau den Liter Gaismilch1 mit 8 Kronen bezahlte u. das nur eine Gnade – denn man bezahlt auch 10-12 Kr per Liter – überhaupt jeden Preis für Alles. Eine solche Willkür |2| hat die Welt noch nicht erlebt! Wir haben Gottlob noch zu heizen – in Wien friert die beste Gesellschaft jämmerlich, die jüdischen Financiers u. Staatsbehörden ausgenommen, denn diese sind versorgt mit Allem. –
Sie Glücklicher mit Ihrem Schweinchen2 – wir denken mit Neid daran – aber wohl bekomme es Ihnen! –
Rosa sucht eine Reisebegleitung für Dorl nach Italien – wenigstens bis Florenz. Dorthin käme ihr die Freundin ihrer Mutter Signora Morelli aus Pisa entgegen – die Dorl über die Wintermonate zu sich nehmen will. Wenn Sie zufällig von Jemand hörten der diese Route macht? Das Kind ist sehr selbständig u. ohne alle Faxen. Bis Meran käme sie mit der Kindercolonie. Sie mögen sich vorstellen, daß es kein ganz leichter Entschluß ist das Kind so weit wegzugeben – aber wer weiß wie es bei uns noch wird – u. dort hat sie es gut. Vielleicht erinnern Sie sich Minna Morelli’s – der Nichte von Frau v. Karajan? – Sie war nach Graz geschickt worden um sich in allen häuslichen Tugenden zu perfectionniren – echappirte aber meist u. kam zumeist um mit Otto zu flirten. Der dumme Junge hätte sich auch besser betten können! – Jetzt geht es dem Ärmsten nach Allem was er durchgemacht hat mit seinen Nerven so elend, daß er daran denkt auf 1 Jahr Urlaub zu nehmen, um sich zu erholen! – Aber wohin jetzt gehen? – Meran u. dgl. bliebe ja eben so lockend wie früher – aber für uns arme D. Oest.3 ist das alles ja unerschwinglich! Die Preise sind auch dort gestiegen, – die billigsten Pensionen kosten 20 lire täglich, was bei unsern Valuta circa 100 Kr gleich käme. – Und bei diesem Marksturz sind die Deutschen auch nicht besser daran. –
|3| Und da wir gerade beim Geld angelangt sind möchte ich mir – aber ohne Sie zu beunruhigen eine Frage erlauben.
Würden Sie mir das Grundstück, welches Sie zu Ihrem Hause dazu kauften – um keine Nachbarschaft zu haben – verkaufen? Ich sowie meine Erben würden sich verpflichten – gar nichts am status quo zu ändern bei Ihren Lebzeiten, – es möge ruhig weiter bebaut werden – ich verzichte auf Erträgnis, nur eine Geldanlage soll es sein – da ich genötigt nur Verkäufe zu machen, – u. bei diesem rasenden Kurse nicht Papiere kaufen will. Aber bitte – beunruhigen Sie sich nicht im Geringsten wenn es nicht sein kann – Sie kennen mich u. wissen ich bin nicht im Geringsten „nachträgerisch“ –!4 Geben Sie mir Antwort in Graz – ich bin von 17. ab wieder zu Hause. Auch eventuell Ihre Preisforderung.
10/11 Der Brief blieb richtig liegen – ! – Und nun naht schon die Abschiedsstunde! Jedes Abschiednehmen wird schwerer – – wer weiß wann u. ob es ein Wiedersehen gibt, u. diese Verkehrsverhältnisse dazu – die täglich schrecklicher u. theurer werden – von Graz nach Wien 120 Kr. – vielleicht 150! – Rosa ist wohl ein „stiller Held“ – zum Glück sind diese lieben sonnigen Kinder Lichtblicke in ihrem Leen. Wir gehen eben zu einer Stunde u. Generalprobe des rhythmischen Bewegungscurses den sie mitmachen eine „Fastentanzstunde“ möchte ichs nennen da ihr der größte charme, der Walzer, fehlt. |4| Es soll wohl ein Kasteien sein?
Die übrige Welt kasteit sich nicht im Geringsten. Schamlos wie die Leute es treiben – Der Liter Wein kostet hier bereits 40 Kr – u. alle Vöslauer5 Gumpoldskirchner etc. Ausschänke sind bis auf die Straße voll mit Menschen – die singen u. johlen – Tanzkurse für die Dienstboten die regelmäßig bis 12-1 Uhr Nachts dauern – etc – Germania – verhülle Dein Haupt! –
Ist dieses Volk mehr wert als unterzugehen? – – –
Ich hoffe u. wünsche diese Zeilen finden in guter Stunde – Eingang – treffen Sie wohl – u. regen Sie aber not a bit auf. – Auf Wiedersehen! Rosa u. die Blonde u. die Braune senden liebste Grüße – ! Die kleine Braune ist ein zartes Dingerl – aber sehr begabt u. schon witzig. Könnte ich sie nur zu mir nehmen!
Allerherzlichst
Anna Zwiedineck
1 Gem. Ziegenmilch („Geiß“).
2 Wirklich, oder eine Anspielung im übertragenen Sinn?
3 „Deutschösterreicher“.
4 Ein „interessanter“ Vorschlag, der Schuchardt lebenslang im Besitz des Grundstücks beließe, dessen Eigentümer er aber nicht wäre. Nur, was sollte er mit dem sich immer schneller entwertenden Kaufpreis anfangen?
5 Im Original „Voslauer“.