Anna von Zwiedineck an Hugo Schuchardt (02-13059)
an Hugo Schuchardt
28. 04. 1887
Deutsch
Schlagwörter: Universität Graz Haas, Wilhelm Sauer, August Schönbach, Anton Nedwed, Hans Venedig Graz
Zitiervorschlag: Anna von Zwiedineck an Hugo Schuchardt (02-13059). Venedig, 28. 04. 1887. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2021). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8988, abgerufen am 01. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8988.
Venedig 28/4 87
Liebster professore
wie Sie sehen, habe ich mich der großen Völkerwanderung angeschlossen, und bin, wie ich immer meine eigenen Wege wandere, (?) – nach Venedig gezogen.
Hier habe ich den ganzen Umfang Ihres Stoßseufzers kennen gelernt – denn je suis entourée des Anglais – et Pour comble de malheur bin ich hier in Pension – und höre Morgens u. Abends immer das Gezwitscher der leider nicht immer jungen & schönen Ladys –! Aber immer lesen – ich habe die alten Ladys – und Sie die schönen Provencalinnen – als umgekehrt!1|2| Nun muß ich Ihnen nach dieser „Ortsveränderungsanzeige“ erst für Ihren Brief danken. – Abgesehen, daß er mich höchstlich amüsirt hat – ich habe herzlich österreichisch gelacht – „Schuchardt roulé d’un taureau“2 – wäre tragisch wenn es nicht komisch wäre – also abgesehen davon hat es mich herzlich gefreut.
– Man schreibt aus der Fremde doch nur Menschen die man gern hat – und es freut mich einen solchen Beweis Ihrer guten Gesinnung für mich zu erhalten! – Ich habe von verschiedenen Ihrer Miseren gehört – Haas3 schrieb mir – Sie hätten Ihr Geld nicht rechtzeitig erhalten – u. habe Sie sehr, sehr bedauert. Nun sind |3| Sie doch wieder ganz „auf dem Damm“! Seit den 8 Tagen, die ich in Venedig verbringe, habe ich blutwenig erlebt und wenn ich nicht so intensiv Kunst und Lido kneipte, würde ich schier Heimweh bekommen. Ich habe Greta bei mir – deretwegen bin ich eigentlich hiehergekommen. Es thut ihr sehr gut, der internationale Boden auf dem wir hier in der Pension stehen, imponirt ihr! – Seit einigen Tagen ist hier alles wie verrückt – große Feste sind für 1. 2. 3. Mai in Vorbereitung, die Königin kommt – und eine Illumination findet statt – wie man eine Gleiche never saw! – Ich werde auf das Gondelfahren während dieser Tage verzichten müssen |4| denn man will 50 Lire pro Tag! – Nun das ist ja alles für Sie ohne Interesse – was sich in der Heimat abgespielt hat werden Sie lieber hören! – Sauer4 ließ sich vom Gründonnerstag an erwarten, Dienstag nach Ostern kam er glücklich an, verbrachte 6 Tage bei uns. Ich glaube, er hat sich sehr wohl befunden, gefeiert wurde er wenigstens gleich einem Hofrat im Unterrichtsministerium, und dass sich der Gute den Magen an all diesen verschiedenen Kuchen nicht verdorben hat – läßt tief blicken.
La chanoinesse honoraire – oh Dio, die hat sich kaum trennen können – é molto molto innamorata! Und er – ? – Kann Sauer verliebt sein? – Wir haben uns umsonst auf den „Roman einer Stiftsdame“5|5| gefreut – ‘s ist alles glatt abgelaufen!
Neu und überraschend wird Ihnen die Kunde unserer Aussöhnung mit Schönbach6 sein – u. das brüderliche Du, mit dem er meinen Gatten überraschte. Ja, ja, „tempora mutantur etc.“
Wer hätte das vor 16 Jahren zu denken gewagt? Wie fassen Sie ferner die Verlobung Franz – Nedwed7 auf? – 2 Mai – Statt Erzählung von den wundervollen Festen welche wir hier gesehen – kann ich nur hinzufügen, daß ich vorher ein Telegramm erhielt – worin ich die bedenkliche Erkrankung meines geliebten Vaters erfahre,8 reise heute |6| Nacht nach Graz zurück.
Reisen Sie glücklich – gedenken Sie manchmal Ihrer bedauernswerten Freundin
Anna Zwiedineck
1 Schuchardt reiste im März 1887 über die Provence ins Baskenland, nach Sare.
2 Was ist gemeint: „von einem Stier herabgefallen“ oder „von einem Stier umgeworfen“?
3 Wilhelm Haas (1842-1918), Direktor der Wiener Universitätsbibliothek; vgl. HSA 04256-04257.
4 August Sauer (1855-1926), österr. Germanist, seit 1886 in Prag (vorher Graz); vgl. HSA 09948-09966.
5 Paul Heyse, Der Roman der Stiftsdame: Eine Lebensgeschichte, 1887: „Das Buch erzählt die Lebensgeschichte von Luise, einer mittellosen Adeligen aus der Mark Brandenburg, die auf dem Landgut ihres bigotten und tyrannischen Onkels lebt“ (Peter Czoik).
6 Anton Schönbach (1848-1911), österr. Germanist, von 1876 bis1911 Grazer Ordinarius; vgl. HSA 10146-10176.
7 Hans Nedwed (1850-1940), Jurist und Notar in Graz; vgl. HSA 07723-07731.
8 Johann Dettelbach verstarb am 7. Juni d. J. in Graz; vgl. HSA 13060.