Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (166-09353)

von Leo Reinisch

an Hugo Schuchardt

Maria Lankowitz

18. 06. 1919

language Deutsch

Schlagwörter: Ägypten Wien Frankreich England Österreich Ungarn Polen

Zitiervorschlag: Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (166-09353). Maria Lankowitz, 18. 06. 1919. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2021). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8983, abgerufen am 21. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8983.


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Lankowitz 18.6.1919

Liebster bester Freund,

Halleyū-Yāh! preiset Gott (den Yehovah), denn Freund Schuchardt hat ein glänzendes Lebenszeichen von sich gegeben! Ein Schönschreiblehrer wird durch Ihre Schrift in Schatten gestellt. Ja, hätte ich so gute Augen, aber hier mangelt es wirklich. Am ganzen Körper gesund, so daß ich den ganzen Tag arbeiten könnte und vom Herzen es so gerne täte – aber die Augen versagen, werden immer mehr verschleiert.

Am Ende fügt man sich ins Aergste, wenn es anders nicht sein kann. Habe ich mich auch schon in unsere politischen Geschicke gefügt. Wol denke ich manchmal, wird Deutschland noch einst erstehen oder teilt es die Schicksale von Babylon, Assyrien, Aegypten u.s.w. Wird hier dereinst ein amerikanischer Archäologe im Schutte von Berlin u. Wien graben?

Der smart man Wilson hat mit seinem Programm u. die 14 Punkte Europa betört, nun soll Amerika der Nabel Europas werden, die Bankiers von New- |2| York die Herren der Erde. Und der Weltengeist schwebt über dem Kosmos u. schaut auf den Kampf der Ratten und Mäuse.

Welchen Zweck es denn haben soll, wenn die Franzosen welche schon bald nach 1870 den Rachekrieg gegen Deutschland vorzubereiten angefangen haben, jetzt den Kaiser Wilhelm als Anstifter des Krieges hinzustellen suchen. Ja der Krieg, wenn schon nicht zu verhüten, wol aber ihn zu gewinnen, wäre Deutschland in der Lage gewesen, wenn es nur gegen Frankreich u. Rußland zu kämpfen gehabt hätte u. das hätte sein können, wenn Wilhelm ein Diplomat gewesen wäre und nicht sich für von Gott auserkoren gehalten hätte, Deutschland zur Vormacht Europas zu erheben. Aber dieser stolze Glaube führte ihn nicht nur dazu, ein Bündnis mit England gegen die romanische u. slavische Welt abzulehnen, sondern England den Fehdehandschuh hinzuwerfen, indem er ein Flottengesetz schuf und dabei den prophetischen Ausspruch verkündete: „Die Zukunft Deutschlands liegt auf dem Meere!“

Und was unser armes Oesterreich betrifft, so hat ja schon der „verewigte“ Franz Josef seinen Zerfall in Angriff genommen, indem er Ungarn |3| selbständig gemacht hat. Ungarn ist doch gleichzeitig wie Böhmen (nach der Schlacht von Mohač 1521) an Oesterreich gekommen. Ungarn, weil es revoltiert hat, wurde zur Versöhnung zu einem selbständigen Staat geschaffen (in Folge dessen die Verwickelungen mit Serbien, Rumänien u. Rußland), Böhmen aber wurde so veranlaßt, im Parlament mit Polen um das gleiche Recht wie es Ungarn erreicht hatte, zu kämpfen und daher die Wirrnisse in Oesterreich.

Entschuldigung, daß ich ins Politisieren geraten bin! Wenn ich die geschichtlichen Ereignisse vor meinem geistigen Auge vorüberziehen lasse, sehe ich, daß Ursache u. Wirkung die Geschicke lenken.

Nun ist es aber hohe Zeit, Sie nicht länger zu plagen. Möge Ihre Gesundheit sich erhalten, sonst hat ja der Mensch nichts Besseres. Mit den herzlichsten Wünschen u. Grüßen für Sie

Ihr stets getreuer
Leo Reinisch

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 09353)