Hugo Schuchardt Archiv

Lankowitz 21.11.1918

Lieber hochverehrter Freund,

Von meiner Anständigkeit werden Sie einen eigentümlichen Begriff sich gebildet haben und wol mit Recht. Seit Wochen besitze ich eine sehr brauchbare Sendung u. ich habe noch nicht gedankt. Ich tue es endlich jetzt mit wirklichem Dank, muß aber vor Allem sagen, woher meine verstockte Schweigsamkeit:

Da hat man täglich gelesen, wie gut es im Felde steht u. ich war darauf stolz wie ein Pfau. Da erwache ich des morgens, man bittet um Waffenstillstand, ist mit den härtesten Bedingungen einverstanden, wir fügen uns in Alles. Ein Flegmatiker wie ich gerät in Raserei und schreiende Fraisen,¹ dann betäubt sitze ich dahier – nur jetzt bin ich wieder erwacht u. schreibe Ihnen. Mir ist jetzt alles Wurst, komme was da kommen soll u. mein Schweigen verzeihen Sie mir, denn daß ein lieber Freund mich aufgeben soll, das ist mir nicht Wurst. Wurst ist mir aber noch, daß in wenigen Tagen zwei Kaiser, vier Könige u. ein Dutzend souverainer Fürsten in Pension gegangen sind. |2| Hätten Sie das vor 1814 getan, so ginge es jetzt Europa viel besser.

1918 darf wol als die größte Epoche der Weltgeschichte gelten. Die Mittelmächte oder sagen wir besser: Deutschland u. die islamische Welt können wol nicht von der Bildfläche verschwinden: Das durch Deutschösterreich vergrößerte Deutschland wird der bedeutendste Kulturstaat der Erde,² wenn auch der Geldmarkt von London nach New York verlegt wird u. in Folge die britische Weltherrschaft abzubröckeln beginnt. Frankreich u. Italien werden noch eine Weile schnattern u. dann den Schnabel unter die Flügel stecken. Der smart man soll also der Banquier des Erdenrundes sein – so stelle ich mir das nächste Kapitel der Weltgeschichte vor. Wenn auch ich nicht mehr mittue, das ist schon am meisten Wurst.

Trotz meiner schlechten Augen habe ich da einen kurzen Index eines Lesebuchs der Weltgeschichte aufgeschrieben: die einzelnen Abschnitte werden die kommenden Geschlechter ausfüllen.

Nun aber Schluß. Der im Kosmos wirkende u. belebende Geist, den wir Gott nennen, schütze Ihre Tage u. erhalte mir Ihre Freundschaft bis zu meiner Abreise in den Bauch der Erde.

Gruß u. Handschlag von Ihrem halbverstorbenen

Leo Reinisch