Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (154-09342)

von Leo Reinisch

an Hugo Schuchardt

Sankt Stefan ob Stainz

24. 08. 1916

language Deutsch

Schlagwörter: Indogermanische Forschungen Anthroposlanguage Semitische Sprachen Hestermann, Ferdinand Wien

Zitiervorschlag: Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (154-09342). Sankt Stefan ob Stainz, 24. 08. 1916. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2021). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8971, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8971.


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Reinischhof 24.8.1916

Hochverehrter lieber Freund,

Ihr Schreiben vom 20/8 ist mir gestern Abend zugegangen u. ich danke herzlichst.

Auf Ihre Anfrage wegen F. Hestermann1 ist es mir nicht leicht eine überzeugensvolle Antwort zu geben. Sicher ist daß er aus seinem Orden ausgetreten ist, ich weiß aber nicht, aus welcher Ursache. Daß er ganz mittellos in der Welt dasteht, das weiß ich auch. Wie er aber dennoch lebt, das ist mir nicht bekannt. Vor einem Jahr hat er mir brieflich mitgeteilt, er sei Laie geworden, habe sich mit Genehmigung des Unterrichts-Ministeriums inscribieren lassen, um den philosophischen Doctor zu machen u. wolle dann eine sprachwissenschaftliche Zeitschrift begründen u. zwar nicht etwa eine indogermanische oder semitische, sondern eine allgemeine.2 Wie er sich die Ausführung derselben vorstellt, das hat er mir nicht angedeutet.

Das was ich also hier gesagt habe, wissen Sie |2| ja wol selbst, mehr aber zu sagen, fällt mir schwer, weil ich Hestermann zu wenig kenne. Ich habe seine Artikel im Anthropos wol gelesen, sie sind mehr referierender Art, als eigene Arbeit. Die von Ihnen erwähnte Arbeit, welche über eine südamerikanische Sprache handelnd er der Sprachenkommission eingereicht hat, mußte ich ihm zurückstellen, weil ich aus ihr nicht klar werden konnte, was der eigentliche Inhalt ist.3

Ich habe mit F. Hestermann, wenn ich mich recht entsinne, nur zweimal gesprochen oder eigentlich ihm zugehört, was er mir gesagt hat, daraus aber keinen klaren Einblick über seine Bestrebungen u. Ziele gewonnen. Er sprach mir de rebus cunctis et quibusdam aliis. Es hat alles bei ihm Interesse, er ist sehr angeregt, aber da er nicht alles treiben u. bewältigen kann u. sich keine Schranken setzt, so befürchte ich, er dürfte sich unnütz aufreiben. Talent und Kenntnisse besitzt er gewiß, aber bei seinem Temperament hätte er vielleicht nötig daß ihn [gem. „ihm“] ein Nestor seine Bahn anweise, selbständig |3| scheint er mir nicht zu sein. Sein Temperament hat ihn offenbar verleitet, früher aus dem Orden auszutreten, bevor er sich festen Boden unter den Füßen geschaffen hat. Nun steht er da um allseitig zu arbeiten u. weiß nicht, wo zuerst anfangen u. es fehlt ihm der feste Stand unter den Füßen u. der Hebel mit dem er die Erde aus den Angeln heben könnte. Mir tut der Mann wirklich recht leid, weil ich befürchte daß er untergehen dürfte. Aber wie ihm helfen? Das ist eine trostlose Frage.

Mit dem Wunsche, daß Ihnen der Sommer keine zu großen Beschwerden bereitet haben möge, grüßt Sie innigst

Ihr getreuer
L Reinisch

Ich beabsichtige bis gegen 10. September hier zu bleiben, dann nach Lankwitz zu gehen. Vor Friedensschluß (wenn man davon reden darf) werde ich wol nicht nach Wien fahren.


1 Ferdinand Hestermann (1878-1959), deutscher Ethnologe, ursprünglich Priester der Steyler Mission; vgl. HSA 04696-04703.

2 Hestermann war von 1923 bis 1925 Hrsg. der Folia ethno-glossica“ – Blätter für Völkerkunde, Sprachwissenschaft und Verwandtes.

3 Vgl. dazu Hestermann, Die karibischen Sprachen Südamerikas. Universität Münster, 1929 (Habilitationsschrift).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 09342)