Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (141-09330)

von Leo Reinisch

an Hugo Schuchardt

Wien

04. 03. 1915

language Deutsch

Schlagwörter: Grazer Tagespost Universität Bonn Romanistik Rhodokanakis, Nikolaus Meyer-Lübke, Wilhelm Diez, Friedrich Wien Bonn Schuchardt, Hugo (1915) Schuchardt, Hugo (1915)

Zitiervorschlag: Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (141-09330). Wien, 04. 03. 1915. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2021). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8958, abgerufen am 03. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8958.


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Wien, 4.3.1915

Lieber verehrter Freund,

Besten Dank für Ihren Artikel in der Gr. Tagespost.1 Ja wenn nur die Russen, Engländer u. Franzosen über Ihre Gräueltaten Veröffentlichungen machen würden. Daß wir Deutsche in den Augen dieser Nationen als di echtesten „Barbaren u. Hunnen“ gelten, steht ja fest ohne solche Publikationen – nach dem Kriege wird man wol anfangen, kaltblütiger zu urteilen.

Daß Sie schreiben, zeigt mir daß Sie wolauf u. gesund sind, u. das freut mich sehr. – Was macht Rhodokanakis?

Ihre Schrift betreffs der Akademie hat in der unsrigen Aufsehen gemacht.2 Wundern tut dieses Bannedikt wol Niemanden – den Südländern ist jede Vernunft abhanden gekommen. Der blinde Haß tötet alle Ueberlegung.

Sie wissen nun wol schon daß der große Meyer-Lübke3 Wien verlassen u. nach Bonn übersiedeln wird. Sein Grund hierzu ist, wie er uns mitteilt, lediglich der, weil er auf einer Universität sein Leben u. seine Tätigkeit ausleben will, wo Diez di romanische Sprachwissenschaft begründet hat.4 Alle Hochachtung vor solch edlem Gefühl!

|2|Lassen Sie doch von sich hören, wie es Ihnen geht. Was mich betrifft, so kann ich gerade nicht klagen, nur wird mir die Winterluft allmählich unbehaglich. Wenn möglich, gehe ich Ende März wieder auf ein paar Wochen nach Lussin piccolo; die Luft dort sagt meinen Atmungsorganen am besten zu.

Nun herzlichen Gruß u. di besten Wünsche für
Ihr Wolergehen von
Ihrem
Leo Reinisch


1 Schuchardt, „Französische Kriegsliteratur“, Grazer Tagespost (28. Februar 1915) 1915.

2 Schuchardt, Die Schmähschrift der Akademie der Wissenschaften von Portugal gegen die deutschen Gelehrten und Künstler. Eingeleitet, abgedruckt und übersetzt, Graz: Leuschner & Lubensky, 1915.

3 Wilhelm Meyer-Lübke (1861-1936), Schweizer Romanist, der in Zürich, Jena, Wien und Bonn lehrte. Sein Wechsel aus der Weltstadt Wien ins provinzlerische Bonn stellte sich schon bald als Fehlentscheidung heraus.

4 Friedrich Diez (1794-1876), der, 1822 in Bonn habilitiert, 1830 auf einen Lehrstuhl für mittelalterliche und moderne Sprachen und Literaturen berufen wurde, gilt à tort ou à raison als der Begründer der modernen (deutschsprachigen) Romanistik.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 09330)