Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (112-09301)
von Leo Reinisch
an Hugo Schuchardt
28. 07. 1913
Deutsch
Schlagwörter: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes Afrikanistik Kaiserliche Akademie der Wissenschaften (Wien) Nubische Sprachen Arabisch Abel, Hans Bernhard Ambrosius Lepsius, Karl Richard Schäfer, Heinrich Czermak, Wilhelm Schuchardt, Hugo (1913)
Zitiervorschlag: Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (112-09301). Sankt Stefan ob Stainz, 28. 07. 1913. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2021). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8929, abgerufen am 07. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8929.
Reinischhof 28.7.1913
Liebster geehrter Freund,
Besten Dank für die zwei Karten. Wie recht habe ich daß ich mich aus dem Leben zurückziehe, ich verstehe ja die Sprache der Menschen nicht mehr. „Hochton, Starkton, musikalischer Akzent“! Ich habe nach dem Diktat meiner Nubier u. Abessinier, Beduinen (??), Koisaner (??) u.s.w. niedergeschrieben, was ich gehört u. akzentuiert wie ich gehört habe u. bin also rückständig geworden, weil die Jungen ganz andere Ohren bekommen haben.
Daß Sie Abel’s Schrift anzeigen wollen, wol in ZKM, ist sehr zu loben.1 Im Ganzen ist die Schrift ja sehr fleißig u. gut gearbeitet u. je mehr Texte zu Tage kommen, desto besser. Wenn das Schriftchen nur etwas handsamer u. praktischer für den Leser hergestellt wäre; ich hätte gewünscht daß Abel2 den ganzen Text mit gegenüberstehender Übersetzung fortlaufend gegeben u. darunter oder auch rückwärts die Noten angesetzt hätte, man müßte dann nicht so oft herumblättern was sehr lästig ist u. verwirrt. Ferner halte ich dafür daß im Glossar die Verba in der Wurzel- oder Stammform angesetzt werden sollen, statt im Infinitiv auf -e, welcher eigentlich nicht allgemein nubisch ist u. mehr dem FM. angehört, in KD dafür wenigstens nach den Evangelien |2| zu schließen ist die Nominaklasse auf -ar vorhanden. Ich für meine Person müßte nur Verwahrung dagegen einlegen, wenn Abel auf S. 40 sagt daß ich Formen erschlossen habe. Auch Lepsius behauptet so etwas u. ich habe in meiner „Stellung der Nuba“3 S. 2 Anm. 1 u. S. 16, b erklärt daß ich nur Angaben meiner Nubier gefolgt bin. Auf S. 18 bezweifelt Abel meine Kausativbildung auf -y, die ich dann in „Stellung der Nuber“ §. 53 weiter besprochen habe. Es ist richtig daß ich in der Grammatik vergessen habe Beispiele anzugeben, weil in meinen Texten keine vorkommen, allein ich habe grammatische Formen auch oft erfahren aus gelegentlichen Sätzen u. hätte also in meiner Grammatik solche mitteilen sollen.
Sie fragen ob Abel Arabist ist. Aus seiner Schrift ist wol zu ersehen daß er Arabisch versteht, aber ob er darin publiziert hat, das weiß ich nicht. Ich kenne Abel nur nach der vorliegenden Schrift. Daß er Oberlehrer in Wismar ist, ersehe ich aus seinem Brief an mich.
Es tut mir furchtbar leid daß dieses häßliche Wetter schlimm einwirkt auf Ihre Nerven. Ja dieses Heidenwetter kann verstimmen. Juli – Hitzmonat! Ich lasse meine Stube täglich heizen, im Freien 6-8° R. am Morgen, gestern 8° |3| den ganzen Tag über – das ist ja wirklich zum Fluchen, wenn das etwas helfen würde. Gestern und heute Schnürlregen den ganzen Tag über! Nebel, Regen, Kälte, nordwestl. Winde sind im Juli ja heuer die Regel; di Ernteaussichten miserabel. Schlechte Zeiten nicht allein in der Natur sondern auch in der politischen Welt. Der unbegreifliche Eigensinn der bulgarischen Regierung kann noch zuletzt zu einer europäischen Flagration4 führen u. eine ungeschicktere Diplomatie ist ja kaum mehr denkbar. Lesen Sie doch Roda-Rodas5 Theaterstück „Der Bubi“.6 Wie dort di Diplomatie dargestellt ist, so ist sie es tatsächlich. Doch ich will Sie mit diesem Thema nicht länger langweilen.
Sie fragen, wann Junker-Schäfer zum Abschluß kommen werden.7 Nun, Sie werden es ja noch erleben, aber Jahre werden schon noch darüber hergehen. Schäfer schreibt, er sei in seinem Amt so beschäftigt daß ihm keine Zeit für Extratouren übrig bleibe u. Junker will ohne Schäfer nicht publiziren. Die Wiener Publikation wird wol in 1-2 Jahren zu stande kommen, aber was Schäfer und Junker vor der Wiener Expedition in Nubien gesammelt haben u. Schäfer in der Berliner Akademie veröffentlichen soll, das läßt noch lange warten. |4| Im nächsten Winter wird DrCzermak8 auf Kosten der Sprachenkommission Bergnuber aufnehmen. Czermak ist ein tüchtiger junger Mann u. di Afrikanistik wird durch ihn noch mächtige Erfolge erzielen.
Die herzlichsten Grüße u. Wünsche für Sie von
Ihrem
L Reinisch
1 Schuchardt, „[Rez. von:] Hans Abel: Eine Erzählung im Dialekt von Ermenne (Nubien). Des XXIX. Bandes der Abhandlungen der der philologisch-historischen Klasse der Königl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften No. VIII“, Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 27, 1913, 455-473.
2 Hans Bernhard Ambrosius Abel (1883-?), deutscher Sprachwissenschaftler u. Ägyptologe; Oberlehrer in Wismar.
3 Leo Reinisch, Wien: A. Hölder, 1911 .
4 Wegen eines Streits um die Aufteilung Makedoniens begann Bulgarien, das die Hauptlast des ersten Krieges getragen hatte, 1913 den Zweiten Balkankrieg gegen Serbien und Griechenland.
5 Alexander Roda-Roda (eigtl. Sándor Friedrich Rosenfeld, 1872-1945), österr. Schriftsteller, Satiriker und Publizist.
6 Lustspiel in 3 Akten.
7 Hermann Junker / Heinrich Schäfer, Nubische Texte im Kenzi-Dialekt, Bd. 1, Wien 1921 (Akademie der Wissenschaften, Wien, Kommission zur Erforschung von Illiteraten Sprachen Aussereuropäischer Völker: Schriften; 8).
8 Wilhelm Czermak (1889-1953), österr. Afrikanist und Ägyptologe, zeitweise wissenschaftliche Hilfskraft bei den Sprachstudien des Kordofān-Nubischen Dialektes der Wiener Akademie; vgl. auch HSA 02220.