Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (106-09295)
von Leo Reinisch
an Hugo Schuchardt
16. 06. 1913
Deutsch
Schlagwörter: Nubische Sprachen Müller, Wilhelm Max Rhodokanakis, Nikolaus Karabacek, Josef von Jagič, Vatroslav Ignaz Meyer-Lübke, Wilhelm Jireček, [Josef Konstantin] Böhm-Bawerk, Eugen von Junker, Heinrich Czermak, Wilhelm Wien Ägypten
Zitiervorschlag: Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (106-09295). Wien, 16. 06. 1913. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2021). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8923, abgerufen am 29. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8923.
Wien, 16.6.1913
Lieber Freund,
Ich danke Ihnen bestens für Ihre Zeilen v. 16.5.13 (!) u. beeile mich daher sie sofort zu erwidern.
Es tut mir recht leid daß Ihre Fahrt nach Wien Störungen in Ihrem Befinden verursacht hat, ich habe eher erwartet daß eine kleine Unterbrechung des täglichen Einerlei günstige Wirkung auf den Organismus ausüben werde. Indessen scheint weniger diese Reise als Ihre nicht gewönliche Lebensweise Ursache von Unzukömmlichkeiten zu sein. Von „Vegetabilien, ferner von Zucht der Rosen und des Kropfes“1 kann der Mensch nicht gut u. gesund leben. Von der Züchtung des Kropfes möchte ich Ihnen doch abraten, sie gelingt Ihnen doch nicht, in Wien habe ich noch keine Spur davon entdecken können.2
An W. M. Müller3 muß ich nun bald schreiben u. bei dieser Gelegenheit will ich doch auch einige Fragen an ihn wegen seines eigentümlichen Verhaltens zu Ihnen stellen. Uebrigens haben die meisten Gelehrten gewisse Eigentümlichkeiten die man gewöhnlich mit anormal bezeichnet u. das entschuldigt ja.
Von Rhodokanakis habe ich ein Schreiben erhalten u. ich nam dasselbe zum Anlaß, wiederum an Karabacek die Ermahnung gehen zu lassen, die südarabische Kommission |2| unverzüglich einzuberufen. Ich will auch dann auf meinen Hof gehen, es drängt mich Wien zu verlassen. An den Beratungen der südarab. Kommission muß ich mich doch noch vorher beteiligen. Natürlich muß Rhod. dazu einberufen werden, denn gerad er ist für die Bearbeitung der Glaseriana4 di allerwichtigste Persönlichkeit.
Jagic5 ist mir in seinem Verhalten zu Meyer-L.6 nicht recht verständlich. Im Anfang war er in der Budget-Kommission dem Unternemen nicht sehr günstig, allein in der letzten Kommissionssitzung trat er mit Eifer dafür ein wärend Kenner7 und ich, ebenso Jirecek8 dagegen waren. So viel vermochten wir gegen Böhm9 u. Jagic wenigstens durchzusetzen, daß für 1913/14 noch keine Post eingestellt werden konnte u. die Klasse hat uns zugestimmt. Dann heißt es eben weiter kämpfen. Einer Person auf viele Jahre Konzessionen im Budget zu gewähren erscheint mir eine Ungeheuerlichkeit u. ist di größte Gefahr vorhanden, daß das Geld verloren geht.10
Eine Mitteilung erfreulicherer Art kann ich Ihnen noch machen: Prof. Junker hat in Aegypten einen Nubier vom Gebel Darr in Kordofan11 gefunden |3| u. von ihm Texte erzielt. Diese werden mit grammatischen Vorbemerkungen in den Sitzungsberichten erscheinen.12 Im kommenden Winter geht auf Kosten der Sprachenkommission Dr Czermak,13 ein sehr talentierter u. eingeschulter junger Gelehrternach Aegypten um zunächst mit jenem Nubier noch weiter zu arbeiten u. dann schon in der Sprache heimisch nach Kordofan zu reisen u. dort die einzelnen Berge zu besuchen, wo ja noch so vieles zu holen ist. Auch Pater Hestermann14 v. St. Gabriel15 bereitet sich vor im Winter 1914/15 nach Kordofan u. Darfur zu gehen. Slatin Pasha16 hat mir die Unterstützung der englischen Regierung in Aussicht gestellt.
Nun herzliche Grüße u. die besten Wünsche für Ihr Gedeihen von
Ihrem L Reinisch
1 Wohl ein Zitat aus einem Schuchardt-Brief.
2 Gem. ist wohl bei einem Besuch Schuchardts in Wien, z. B. zwecks Teilnahme an einer Akademie-Sitzung. – Zum „Kropf“ vgl. HSA 09284.
3 William / Wilhelm Max Müller (1862-1919), deutsch-amerik. Orientalist, lehrte ab 1888 an der Univ. of Pennsylvania; vgl. HSA 07587-07589.
4 Eduard Glaser (1855-1908), österr. Forschungsreisender, Orientalist und Archäologe. – Vgl. dazu Maria Höfner, Die Sammlung Eduard Glaser, Verzeichnis des Glaser-Nachlasses, sonstiger südarabischer Materialbestände und einer Sammlung anderer semitischer Inschriften, Brünn; München [u.a.], 1944 (Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse, Bd. 222,5).
5 Vatroslav Ignaz Jagič (1838-1923), österr.-kroatischer Slavist, seit 1886 in Wien; vgl. HSA 05015-05054.
6 Wilhelm Meyer-Lübke (1861-1931), Schweizer Romanist, der in Zürich, Jena, Wien und Bonn lehrte. Er nahm im Jahr 1915 einen Ruf nach Bonn an, wo er den Lehrstuhl, den einst Friedrich Diez innegehabt hatte, besetzte.
7 Friedrich von Kenner (1834-1923), österr. Klass. Archäologe.
8 Konstantin Josef Jireček (1854-1918), österr.-tschech.-bulg. Historiker u. Diplomat; vgl. HSA 05135.
9 Eugen Böhm Ritter von Bawerk (1851-1914), österr. Ökonom.
10 Es geht aus diesem Passus nicht hervor, worum es genau geht, offenbar um Sonderrechte für Meyer-Lübke.
11 Heute: Kurdufan.
12 H. Junker und W. Czermak, Kordofân-Texte im Dialekt von Gebel Dair, Wien 1913 (Akademie der Wissenschaften Wien / Philosophisch-Historische Klasse: Sitzungsberichte, 174, 3).
13 Wilhelm Czermak (1889-1953), österr. Afrikanist und Ägyptologe, zeitweise wissenschaftliche Hilfskraft bei den Sprachstudien des Kordofān-Nubischen Dialektes der Wiener Akademie; vgl. auch HSA 02220.
14 Ferdinand Hestermann (1878-1959), deutscher Ethnologe; vgl. HSA 04696-07403.
15 Missionshaus der Steyler Missionare in Mödling.
16 Rudolf Carl Anton Slatin Pascha (1857-1932), österr. Reisender und Abenteurer, zeitweise Gouverneur von Darfur.