Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (101-09290)

von Leo Reinisch

an Hugo Schuchardt

Sankt Stefan ob Stainz

30. 04. 1913

language Deutsch

Schlagwörter: Friedwagner, Matthias Schipper, Jacob Müller, Wilhelm Max Ägypten Wien Graz Schuchardt, Hugo (1913)

Zitiervorschlag: Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (101-09290). Sankt Stefan ob Stainz, 30. 04. 1913. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2021). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8918, abgerufen am 18. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8918.


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Reinischhof 30.4.1913

Lieber Freund,

Herzlichsten Dank für den Brief v. 24. u. nachfolgende Karte, so wie SA1 der Besprechung der nubischen Evangelien.2 Kein Strafporto.

Friedwagner3 habe ich nicht gesehen,4 wenigstens ihn nicht gekannt. Einen deutschen Professor habe ich wol gesehen mit zwei Damen, als sie in Cigale in ein Bott stiegen um nach Lussin piccolo zu fahren; sie sagten dem Fährmann, er möge bei der „Tepandanze“5 del Hotel Vienne anlegen. Schipper6 habe ich auf einen Augenblick gesprochen u. dann nicht wieder gesehen.

W. M. Müller’s7 Schweigen müssen Sie nicht mißdeuten; er ist ein vielgeplagter, vielgeprüfter Mann, der die Stunden zu seinen wissenschaftlichen Arbeiten fast stelen muß. Wenig Lohn, viel Arbeit dafür, zu Hause eine kranke bettlägerige Frau; um die Familie u. sich über Wasser zu halten, ist er genötigt bei Nacht per Eisenbahn nach Boston, Chicago &c. zu fahren, um beim Tag populäre Vorträge zu halten u.s.w. Seine von der Carnegie ziemlich spärlich subventionierten Reisen nach Aegypten hat er im heißen Sommer ausgeführt, weil er im Herbst u. Winter wieder in Philadelphia roboten mußte, Urlaub giebt es nicht für ihn u. er wird nur für wirklich getane Leistung gezahlt [sic], das alles natürlich vertrautlich. Ihren SA. wünscht er nur für sich, er |2| arbeitet an einer Darstellung der Kunischarasprache8 u. zieht daher auch alle nubischen u. nilotischen Erscheinungen zu Rate.

Für Ihren SA. Besprechung derv nubischen Evangelien meinen besten Dank.9 Sie haben aber schon furchtbar tief gearbeitet, ich muß mich vor Ihrem nubischen Wissen verstecken – das ist nicht Phrase, sondern Ausdruck meines Empfindens. Ja dieses dolida Liebling! Ich habe in Wien daran herumgebissen u. glaube, die Erklärung gefunden zu haben, aber das Gedächtnis läßt mich jetzt im Stich. In Wien werde ich meine Aufzeichnungen nachsehen. – Das y vor an halte ich nicht für „hiatustilgend“ (S. 110), sondern sehe hier die ältere Form yan für an, welches y nur noch nach Vokalen zum Vorschein tritt; vgl. Tigray l Πi sagen, a. Uf. ya, yu. Lepsius zieht das an zum vorangehenden Verb u. bestreitet meine Aufstellung des an als selbständiges Verb. Ich habe bei der Lektüre der Evangelien manche Aufzeichnungen mir gemacht u. will diese (im Besitz Ihrer Arbeit) nun wieder durchsehen.

Das schöne Wetter hier möchte ich noch auf dem Lande auf mich wirken lassen, aber längstens 5. Mai muß ich wol abreisen. Warscheinlich bleibe ich in Graz über Nacht. Ich komme gegen 1 Uhr nach Graz; |3| speise am Bahnhof u. dann habe ich vor, in Ihre Wohnung zu fahren, Sie zu besuchen u. von Ihnen dann weg ein Paar alte Bekannte von mir aus meiner Gymnasialzeit aufzusuchen. Wenn also keine weitere Mitteilung erfolgt, so bitte ich, mich zwischen 2-3 Uhr in Ihrer Wohnung zu erwarten.

Mit den herzlichsten Grüßen

Ihr
L Reinisch


1 „Sonderabdruck“, heute meist „Sonderdruck“.

2 Schuchardt, „[Rez. von:] Enjil Yesu komisbuldi teran hiran Mata - hiran Markus - Luka gadisebul - hiran Hana bajsin nawite“,Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 27, 1913, 97-118.

3 Matthias Friedwagner (1861-1940), österr. Romanist, seit 1911 in Frankfurt a. M.; vgl. HSA 03149-03181.

4 Vermutlich in Lussin

5 Wohl für „Dépendance“-

6 Jakob Schipper (1842-1915), deutsch-österr. Anglist; vgl. HSA 10054-10055.

7 William / Wilhelm Max Müller (1862-1919), deutsch-amerik. Orientalist, lehrte ab 1888 an der Univ. of Pennsylvania; vgl. HSA 07587-07589.

8 Nicht identifiziert, Lesart nicht gesichert.

9 Schuchardt, „[Rez. von:] Enjil Yesu komisbuldi teran hiran Mata - hiran Markus - Luka gadisebul - hiran Hana bajsin nawite“, Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 27, 1913, 97-118.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 09290)