Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (57-09247)

von Leo Reinisch

an Hugo Schuchardt

Wien

22. 02. 1912

language Deutsch

Schlagwörter: Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften (Berlin)language Deutschlanguage Deutsche Dialektelanguage Romanische Sprachenlanguage Schilluk Jagič, Vatroslav Ignaz Westermann, Diedrich Hermann Bastian, Adolf Wien Schuchardt, Hugo (1912)

Zitiervorschlag: Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (57-09247). Wien, 22. 02. 1912. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2021). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8874, abgerufen am 03. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8874.


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Wien 22.2.1912

Lieber Freund,

Meinen besten Dank für Brief, Karte u. den Artikel: Geschichtlich verwandt etc.1 Ich verweile zunächst bei diesem letzteren. Es beschleicht mich eine Scheu u. ein Gefühl der Beschämung vor Ihnen, Ihrem ausgebreiteten Wissen u. Ihrer Gedankenfülle. Sie regen Fragen an, die mir eigentlich nie im Leben aufgestossen sind. Wie eng u. beschränkt ist mein Gedankenkreis! Nun, ein Schuster macht eben Schuhe; Hosen, Röcke, Kappen sind ihm gleichgültig, die machen ja andere. – Nur eine Phrase muß ich ablehnen: „setzen wir sich“2 habe ich niemals gehört. Ihren Artikel lasse ich circulieren, zunächst hat ihn Jagić.

Ich habe Westermanns Shilluk3 u. die bei mir liegenden Shillukmaterialien des P. W. Banholzer4 in Lul5 in letzterer Zeit noch einmal genau durchsehen müssen. Ueber die Intonation im Shilluk, Dinka denke ich jetzt doch etwas anders. Westermann hat im Ewe6 die Intonation genau beobachtet. Dort ist sie wirklich wesentlich: welch verschiedene Bedeutungen kommen da einem einzigen Worte zu – ganz urtümlich; wie soll man bei einsilbigen Sprachen die Bedeutungen eines Wortes im Sprechen unterscheiden, als durch die stattfindende Betonung? Ganz so steht es aber im Schilluk-Dinka doch nicht, u. ich vermute, Westermann vom Ewe herkommend hat auch im Sch.-Di. die Intonation gesucht u. daher auch gefunden. Nun sind diese Sprachen ja keine einsilbigen u. der Ton nicht sehr wesentlich, die verschiedenen, höchstens dann u. wann zwei Bedeutungen eines Wortes sind leicht zu unterscheiden im Zusammenhang der Rede. Banholzer hat in seinen |2| Manuscripten gar nichts von Ton geredet, ebenso nicht Mitterrutzner7 u. Beltrami im Dinka8 u. wäre für die Intonation eine wesentliche Sache, so hätte sie diesen ja auch nicht entgehen können.

Was nun das Passiv im Schilluk betrifft, so ist wie ich glaube, die Sache sehr einfach: Das Schilluk besitzt formal weder ein Passiv noch ein Activ, sondern unterscheidet diese nur durch die syntaktische Stellung der Verbalwurzel; z.b. yā cwäl-a jalan ich rief Mann diesen – u. yā cwäl yi jal an ich ward gerufen durch dies. Mann; wörtlich: ich (ya) – war - (a) rufen Mann – diesen – u, ich (ya) war (a) rufen durch d. Mann. = ya-a (ya ich, a Perfektzeichen).

Das Buch über das Suk von Beech ist mir entgangen; wie lautet der Titel?9

Ich muß noch mal auf Ihre Schrift „Geschichtlich verwandt“ etc. zurückkommen.10 Sie reden da auch von Bastian.11 Ich habe ihn persönlich gekannt u. auch mit ihm verkehrt. Auf mich hat der Mann, so wie seine Schriften einen verwirrenden Eindruck hervorgerufen. Er hat mit rasender Hast geistige Erzeugnisse zu sich genommen und diese dann ganz unverdaut wieder von sich gegeben. Seine Druckschriften hat er meist gar nicht corrigiert u. so sind ihm oft komische Sachen passiert. Zettel zu Zettel hat er auf einem Faden aufgereiht u. so in den Druck geschickt, so daß manchmal ein Zettel ganz verkehrt oder nicht zur Sache gehörig abgedruckt wurde. So zb. in seinem Buch über den Kongo,12 wo er von den Negern redet, folgt ganz unvermittelt ein Passus über die Päbstin |3| Johanna, ohne Zusammenhang mit dem vorangehenden u. nachfolgenden Text. Daß Bastian Ideen gehabt, das bestreite ich aber durchaus nicht, aber er hat in einer Schiebtruhe Materialien herbeigeschleppt u. es dann der Menschheit überlassen, aus dem Mist u. Schutt die Perlen herauszusuchen. – Wenn ich Ihnen nun etwas Verdruß durch meine Worte verursacht haben sollte, dann bitte ich um Verzeihung u. Sie können ohne weiteres von mir sagen: laudabiliter se subiecit.13

Mit dem Wunsche, daß die Ihnen zu teil gewordenen Ehrungen14 Sie
nicht allzu sehr aufgeregt haben mögen, zeichnet mit den besten
Grüßen

Ihr
L. Reinisch


1 Schuchardt, „Geschichtlich verwandt oder elementar verwand“, Magyar Nyelvőr 41, 1912, 3-13.

2 Geschichtlich verwandt, S. 7: „Ich erinnere daran wie fremdartig uns der Gebrauch des Reflexivpronomens für die 1. und 2. P. (,setzen wir sich‘) in österreichischem Deutsch anmutet, wie wir ihn als krassen Slawismus betrachten und wie er doch auch in deutschen und romanischen Mundarten auftritt die slawischem Einfluss weit entrückt sind“.

3 Im Südsudan gesprochene Sprache.

4 Pater Wilhelm Banholzer (1873-1914), FSC [Fratres Scholarum Christianorum], Missionar in Schilluk, aus Rottweil stammend, aus seiner Feder stammen Come vestono e come s'adornano gli Scilluk, Nigrizia 1904 (sonst keine weiteren Publikationen nachweisbar).

5 Missionsstation in der Nähe des heutigen Malakal; Banholzer starb 41jährig in Kodok unweit der Station in Lul an der Malaria.

6 Aus seiner Feder liegen zahlreiche Arbeiten zu Wortschatz und Grammatik des Ewe vor.

7 Johann Chrysostomus Mitterrutzner, Die Dinka-Sprache in Central-Africa, Kurze Grammatik, Text und Wörterbuch, Brixen: A. Weger, 1866 .

8 Wohl gemeint Giovanni Beltrame, Grammatica della lengua Denka, Florenz: Civelli, 1870 .

9 Mervin W. H. Beech, The Suk, their language and folklore, Oxford, Clarendon Press, 1911 .

10 Schuchardt, „Geschichtlich verwandt oder elementar verwand“, Magyar Nyelvőr 41, 1912, 3-13.

11 Adolf Bastian (1826-1905), deutscher Arzt und Ethnologe; vgl. HSA 00570-00571.

12 Adolf Bastian, Ein Besuch in San Salvador, der Hauptstadt des Königreichs Congo, ein Beitrag zur Mythologie und Psychologie, Berlin: Reimer, 1859 (Afrikanische Reisen) .

13 „Lobenswerterweise hat er sich untergeordnet“ (lat. Sprichwort).

14 Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften (aus Anlaß des 70. Geburtstags); kurz zuvor Akademie Oslo (Christiania) usw.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 09247)