Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (47-09236)

von Leo Reinisch

an Hugo Schuchardt

Wien

09. 12. 1910

language Deutsch

Schlagwörter: Kaiserliche Akademie der Wissenschaften (Wien) Süss, Eduard Wien Paris

Zitiervorschlag: Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (47-09236). Wien, 09. 12. 1910. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2021). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8864, abgerufen am 06. 12. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8864.


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Wien, 9.12.1910

Lieber Freund,

Mit bestem Dank erwidere ich Ihren freundlichen Gruß u. wünsche Ihnen vom Herzen das beste Wohlergehen. Was mich betrifft, so bin ich mit meinen körperlichen Befunden zufrieden, trotz dem, daß mir in Wien schon seit 14 Tagen keine Sonne gesehen haben und in einer feuchten Nebelschichte [sic] stecken.

Nun zu Artbauer.1 Wer wünscht es ihm nicht, daß er Tibesti2 errreicht u. wol u. heil wieder zurückfindet! Ob er auch in diesem Fall Resultate für die Wissenschaft mitbringt, darauf setze ich nicht allzu große Hoffnungen. Er war ein paar mal bei mir u. ich habe eingehend über seine bisherigen Reisen u. zukünftigen Pläne gesprochen. Ich kann nur sagen, es ist recht schade um Artbauer, er ist ein frischer, unternehmungslustiger junger Mann, weiß aber nicht recht was er will. Vorkenntnisse auf irgend einem Wissensgebiet besitzt er eigentlich keine, er geht ziemlich planlos in die Welt. Er war |2| auch beim Präsident Eduard Suess3 u. klopfte, wie bei mir, um materielle u. moralische Unterstützung durch die kais. Akademie an. Sein Auftreten machte bei Suess einen günstigen Eindruck, aber auch er fand keine Handhabe, um die Akademie für ihn zu interessieren, weil er 1) keine, wie immer geartete Vorlage für sein Ansuchen beibringen konnte u. 2) seine Pläne ziemlich nebelhaft erschienen sind. Seither ist sein Buch erschienen, das ich aber noch nicht kenne, also kein Urteil darüber mir bilden konnte. Merkwürdig ist mir, daß er auf meine Aussetzung, weil er über seine bisherigen Reisen keinerlei Publikationen gemacht, mir gar nicht gesagt hat, er bereite ein Reisewerk vor; es scheint, daß er nur darnach den Plan gefaßt hat, etwas zu schreiben. Auf meinen Vorschlag, in Wien etwa ein Jahrlang irgend eine Fachwissenschaft zu betreiben u. sich so für eine fruchtbringende Reise vorzubereiten, ist er nicht eingegangen. Welchen Eindruck macht auf Sie sein Buch? Bringt es mir was ein, wenn ich es kaufe? |3| Ich habe seit Oktober meine Zeit eigentlich vertrödelt u. meine Nase in allerlei Bücher hineingesteckt. Noch etwas zu schreiben, dazu fehlt mir eigentlich schon die Lust, weil meine Bücher niemand liest, nicht einmal ich mehr. Vor ein paar Tagen kommt mir aus Paris die Nachricht, daß mein langjähriger Korrespondent Prof. Mondon-Vidailhet4 plötzlich gestorben ist. Noch vor zwei Wochen übergab er seine Aufzeichnungen aus Aethiopien (linguistischen Inhaltes) einem jungen Wiener, der bei ihm Vorlesungen gehört hat, mit dem Wunsche, ich solle jene Manuscripte durchsehen und stelle sie mir zur Verfügung, da er nicht mehr viel lesen dürfe. Ueber die Dialekte von Guraghe5 hat Mondon ziemlich viel gesammelt.6

Nun grüßt Sie recht herzlich

Ihr
L Reinisch


1 Otto Caesar Artbauer (1878-vermutlich 1916), österr. Forschungsreisender und Reiseschriftsteller. Seine Bücher datieren fast alle aus dem Jahr 1911: Die Rifpiraten und ihre Heimat, erste Kunde aus verschlossener Welt; Kreuz und quer durch Marokko, Kultur- und Sittenbilder aus dem Sultanat des Westens; Ein Ritt durch Marokko, Reiseroman; Afrikanische Spiegelbilder, die Welt des Halbmonds - wie sie weint und lacht usw.

2 Das Tibesti ist ein aus Vulkanen bestehender Gebirgszug im Tschad und zugleich das höchste Gebirge der Sahara (wikipedia).

3 Eduard Süss (1831-1914), österr. Geologe u. Politiker; vgl.HSA 11460.

4 Casimir Mondon-Vidailhet (1847-1910), franz. Schriftsteller, Äthiopien-Kenner.

5 Dt. meist „Gurage“, ethnische Gruppe im nördlichen Äthiopien.

6 Casimir Mondon-Vidailhet, Études sur le Guragiē, Wien 1913 (Schriften der Sprachenkommission, 5) . Mondon-Vidailhet (1847-1910) war offizieller Abgesandter der franz. Regierung bei Kaiser Menelik (1889-1913).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 09236)