Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (34-09224)

von Leo Reinisch

an Hugo Schuchardt

Sankt Stefan ob Stainz

22. 07. 1909

language Deutsch

Schlagwörter: Deutsche morgenländische Gesellschaftlanguage Lingua franca Rom Ägypten Indien Graz Schuchardt, Hugo (1909) [o. A.] (1910)

Zitiervorschlag: Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (34-09224). Sankt Stefan ob Stainz, 22. 07. 1909. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2021). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8851, abgerufen am 29. 11. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8851.


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Reinischhof, Post Stainz 22/7 09

Lieber Freund,

Ich danke Ihnen bestens für Ihre neueste Zusendung. Die lingua franca ist eine sehr interessante u. lehrreiche Lektüre.1 Aber woher kommt nur die Bezeichnung lingua franca? Warum heißt sie nicht lingua taliana u. wie kommt es, daß zumindest die Italiener im Orient gleich allen Europäern Franken u. nicht Italiener genannt werden?

Bei Berührung von Völkern entstehen Sprachwanderungen, wobei man oft im Zweifel ist, welcher Sprache eine Redewendung eigentlich angehört. So hörte ich in New Orleans einen Matrosen singen:

Mai patri is Maryland Hi hed born mi mai moδer.

Ist das mehr Deutsch oder Englisch?

In „Sachen u. Wörter“ beweisen Sie wieder die Angaben, daß die Neger den Fluß der Quelle zufließen lassen.2 Was man den armen Negern nicht alles andichtet. Wenn er zb. sagt, der Fluß geht bis hoch ins Gebirge (wo die Quelle liegt), so meint er ja doch nur, er reicht weit hinauf. Er gebraucht vielleicht einen Ausdruck, durch den er sich dem Fremden verständlich zu machen sucht. Das ist auch lingua franca.

Heute bekam ich ein Rundschreiben, worin zur Beitrittserklärung (u. Zalung)3 zu einer |2| Vereinigung eingeladen wird, welche den Zweck hat die Förderung der klassischen Altertumskunde. Was soll da noch gefördert werden? Ist doch die klassische Philologie sonst nur noch eine Disziplin u. kaum noch eine Wissenschaft zu nennen. Wenn eine Vereinigung sich bildete zur Förderung der Altertumswissenschaft, dann wäre ich mit voller Seele dabei, aber die heutigen (klassischen) Philologen, wenn sie vom Altertum reden, denken nur an Rom u. Athen, u. Babylon, Assyrien, Persien, Aegypten, Indien etc. sind noch immer Barbarenstaaten, deren Erforschung ja nicht der Mühe wert ist.

Zum Philologentag in Graz4 werde ich übrigens auch kommen, weil auch die morgenländische Gesellschaft dort tagen wird und ich dem Vorstand derselben angehöre.5 Dann hoffe ich Sie in Ihrem neuen Palais besuchen zu können.

Mit den herzlichsten Grüßen

Ihr
L Reinisch


1 Schuchardt, „Die Lingua franca“, Zeitschrift für romanische Philologie 33,1909, 441-446.

2 Vgl. HSA 09221.

3 Satzbau eigenartig!

4 Vgl. Verhandlungen der fünfzigsten Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Graz vom 28. Sept. bis 1. Okt. 1909, Leipzig 1910.

5 Vgl. „Allgemeine Versammlung der D. M. G. am 29. Sept. 1909 zu Graz. (1909)“, Zeitschrift Der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, 63(2), 1909, XXXIII .

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 09224)