Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (30-09220)

von Leo Reinisch

an Hugo Schuchardt

Wien

15. 03. 1909

language Deutsch

Schlagwörter: Rhodokanakis, Nikolaus Nöldeke, Theodor Wien Indien Straßburg Schuchardt, Hugo (1909)

Zitiervorschlag: Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (30-09220). Wien, 15. 03. 1909. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2021). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8847, abgerufen am 11. 12. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8847.


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[Postkarte, WIEN 65, 15.III.09]

L. F. Ich danke für Ihre freundliches Schreiben u. neme mit Freude zur Kenntnis, daß Sie kein Opodeldok1 zu gebrauchen bemüßigt waren. Die kleine durch Witterungseinflüsse bewirkte Erkältung hat wo wenig zu bedeuten, auch ganz Wien leider ja darunter. Wir gehen ja einer neuen Glacialperiode entgegen u. das tut mir auch deshalb so leid, weil dadurch auch wol Ihr schöner Neubau in der Fuchsgasse in Gefahr geraten dürfte. Ueber kürzer oder länger wird Europa nach Afrika, Indien u. dgl. auswandern müssen.

Glauben Sie, daß durch die iberischen Namen auch die iberische Frage etwas erhellt werd. wird?2|2|Rhd.‘s3 Artikel hat mich sehr gefreut, auch der Bittner’s,4 obwol dieser das Buch etwas flüchtig gelesen hat, daher auch manche Mißverständnisse in seinem Bericht. Ich weiß warlich nicht recht, was Sie das „Sein“ so sehr intriguiert. Uebrigens habe ich ja nur thatsächliches konstatiert; wie die Frage dann der Sprachphilosoph zu recht legen wird, das ist seine Sache u. die geht mich gar nichts an. Um Ihrer Gewissensangst ein Ventil zu eröffnen, so betrachten Sie die Sache so: das Verbum ist so gebaut, daß es aus drei Bestandteilen zusammengesetzt ist: 1) dem Verbalstamm 2) dem Pronomen 3) einem auxiliar je nach Völkern z. Zeiten von einem Stammwort twn-kwn-pwen in Verzweigungen daraus abgeleitet. Was dann dieses twn etc. ursprünglich war u. bedeutete, stelle ich Ihnen anheim, ich halte es für das, was man jetzt als sein auffaßt. – Ich sehe, daß wenn von meiner Leiblichkeit längst schon alles in die Substanz der Muttererde übergegangen sein wird, man meine Lösung für brauchbar erachten wird. Gegenwärtig arbeiten die Semitisten u. Sprachforscher im Allgemeinen mit Scheuledern5 versehen u. gehen allgemeinen linguistischen Fragen aus dem Weg. Prof. Nöldeke6 in Straßburg findet meine Arbeit für viel zu wenig verwickelt; so einfach wie ich die Sache dargestellt habe, kann der Menschengeist nicht verfahren sein.

Anfang nächster Woche will ich auf etwa drei Wochen an das Meer gehen, nur weiß ich noch nicht recht wohin.

Nun meine besten Grüße und Wünsche für Sie

L Reinisch


1 Einreibemittel (Linimentum saponato-camphoratum) gegen Rheumatismus.

2 Schuchardt, „Iberische Personennamen“, Revista Internacional de Estudios Vascos / Revue International des Études Basques 3, 1909, 237-247.

3 Nikolaus Rhodokanakis (1876-1945), griechisch-österreichischer Semitist und Arabist. – Bezug unklar; Serdar Aslan, Bibliographie Nikolaus Rhodokankanis ( https://islam-akademie.de/index.php/bibliographie-terminologie/66-autoren-1941-1950/751-nikolaus-rhodokanakis-1876-1945-bibliographie) weist keine Rez. von Reinisch nach.

4 Maximilian Bittner (1869-1918), österr. Orientalist; seine Rez. Reinischs erschien in Anthropos 4, 1909, 278-283.

5 Heute meist „Scheuklappen“.

6 Theodor Nöldeke, Neue Beiträge zur semitischen Sprachwissenschaft, Straßburg: Trübner, 1910 .

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 09220)