Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (25-09215)

von Leo Reinisch

an Hugo Schuchardt

Wien

07. 12. 1908

language Deutsch

Schlagwörter: Universität Wien Morphologie Pronomenlanguage Semitische Sprachen Geyer, Rudolf Trombetti, Alfredo Fischer, August Graz Trombetti, Alfredo (1908) Møller, Herman (1906)

Zitiervorschlag: Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (25-09215). Wien, 07. 12. 1908. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2021). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8842, abgerufen am 01. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8842.


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LEO REINISCH. Wien, 7.12.08
VIII/2, Feldgasse 3.

Bester Freund,

Dank der gnädigen Nachfrage nach meinem Befinden. Mein Geist hat die körperliche Hülle noch nicht verlassen u. so weit es auf meinen Entschluß ankommt, so beabsichtige ich derzeit noch nicht, das Zeitliche zu segnen, da ich nach meiner Vorstellung noch einige laufende Geschäfte zu erledigen habe. Sind diese abgetan u. ich physisch und intellektuell unbrauchbar geworden, dann ist es allerdings angezeigt, abzufahren u. dann werde ich mir schon erlauben u. Ihrer gütigen Einladung folgen, durch einige Zeit hindurch allnächtlich in Ihrem Fuxbau zu spucken1; die feuchten Wände werden mir dann ja nicht gefährlich werden.

Ueber den für kommenden Mittwoch angekündigten Vortrag Prof. Geyers zur chamitisch-semitischen Anverwandtschaft weiß ich so wenig Sie, in welchem Sinne derselbe gehalten sein wird, denn ich habe Geyer2 seit Jahren nicht gesehen. Im Zweifel ist er wol durch mein Buch hierzu angeregt worden, daher ich nicht umhin kann, den Vortrag zu besuchen. Um kleines mit großem zu vergleichen,3 wird es mir doch wol hoffentlich nicht schlechter ergehen, als dem Führer im deutschen Reichstag.4

Ich wünsche Ihnen schönen Erfolg im „vergleichenden Studium der Wörter“.5 One Resultat bleibt dasselbe gewiß nicht. Erlauben |2| Sie mir aber eine Bemerkung. Bei Ihrem Wissen und Können würden Sie gewichtigere Resultate erzielen, wenn Sie Ihre Tätigkeit auf die Morphologie u. den Sprachenbau richteten; dadurch wird die Verwandtschaft wirklich bewiesen. Daß zwei Nationen dieselbe Spezies Läuse besitzen, beweist noch nicht ihre Verwandtschaft, sondern nur gelegentliche Berührung. Verzeihen Sie einem groben Steirer eine ungewaschene Äußerung, ich versichere Ihnen aber zwei Tatsachen: 1) bin ich übrigens eine ganz harmlose, ja sogar mehr timide Persönlichkeit, 2) habe ich eine aufrichtige Bewunderung Ihrer wissenschaftlichen Leistungen. Daher nemen Sie meine Äußerung hoffentlich mit demselben Gleichmute auf, wie ich das Urteil Trombettis über mein letztes Buch.6 Trombetti schickte mir sein Pronomen der amerikanischen Sprachen7 mit einem Begleitschreiben, in welchem er mir zu seinem Bedauern mitteilt, daß er die Resultate meines Buches mit Ausname von Einzelheiten ablehnen müsse. Ja nun, Geschehenes könnte auch ein Gott nicht mehr ungeschehen machen u. so ergebe ich mich in Resignation. Als ich als Student die Sporgasse in Graz einst hinaufwandelte, ging vor mir ein Bauer, der mit gewaltigem Krach einen flatus ventris von sich gab. Ein Herr begann darob energisch zu protestieren u. sagte: den Kerl sollte man einsperren. |3| Darauf wendete sich der Bauer um u. sagte: von mir aus ist er schon entlassen, jetzt können Sie ihn ja einsperren. Von mir aus ist mein Buch entlassen, jetzt mache man damit was man will.

Mit dem Gedanken Th. Fischers8 über die nordische Heimat der Berbern bin ich, wie mein Buch zeigt, nicht einverstanden, wol aber behaupte ich, daß auch die Indogermanen aus Afrika nach Europa eingewandert sind. Wenn Sie wollen, will ich das beschwören, meinethalben auch deshalb eine Wette eingehen; es freilich beweisen, fällt mir schwer, aber das werden schon jüngere frische Kräfte einmal leisten. Dafür sprechen die Pronomina, die Verbalflexion u. andere weniger ins Gewicht fallende Dinge. Möller schreibt ja jetzt ein großangelegtes Werk über die Verwandtschaft der indogermanischen u. semitischen Sprachen. Mir scheint aber, er zäumt den Esel beim Schwanz auf, wenn er mit der Lautlehre beginnt u. Wörter vorführt.9 Zuerst muß der grammatische Bau als gemeinsam nachgewiesen werden, dann kommt das andere. Den Neger weiß ich augenblicklich von einem Weißen zu unterscheiden; sind aber die Fleischteile vom Knochengerüste entfernt, dann ist die Unterscheidung schon ein ganz anderes Ding. In der Sprache sind die Wörter der flüssige, veränderliche Teil u. verhalten sich zum Sprachbau, wie die Fleischteile, Farbe, Haar zum Knochenbau.

Nun wünscht Ihnen von ganzem Herzen u. aus voller
Seele Gesundheit u. Gedeihen

Ihr
L. Reinisch


1 Gem. „spuken“.

2 Rudolf Geyer (1861-1929), österr. Orientalist, seit 1906 ao., ab 1915 o. Prof. der Semitistik und Vorstand des Orientalischen Seminars Wien.

3 „Si parva licet componere magnis“.

4 Solidaritätserklärung des Reichskanzlers Bernhard von Bülows im Hinblick auf die österreichische Balkanpolitik.

5 Nicht klar, was genau gemeint ist.

6 Alfredo Trombetti (1866-1929), ital. Semitist; vgl. HSA 11782-11841.

7 Trombetti, Saggi di glottologia generale comparata I. I pronomi personali. Accademia delle scienze dell'Istituto di Bologna. Classe de scienze morali. Bologna, 1908.

8 Sollte nicht vielmehr August Fischer (1865-1949), Semitist in Leipzig (vgl. HSA 03042), gemeint sein?

9 Hermann Möller, Semitisch und Indogermanisch, Kopenhagen: Hagerup, 1906, 2 Bde. - Vgl. auch HSA 07404-07426.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 09215)