Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (12-09202)
von Leo Reinisch
an Hugo Schuchardt
19. 01. 1908
Deutsch
Schlagwörter: Ägyptisch
Semitische Sprachen Brockelmann, Carl Wien
Zitiervorschlag: Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (12-09202). Wien, 19. 01. 1908. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2021). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8829, abgerufen am 03. 12. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8829.
LEO REINISCH. Wien, 19.1.08
VIII/2, Feldgasse 3
Sehr verehrter Freund,
Ich habe über Ihre Bemerkung, daß das ägypt. 1tw-y nicht bedeuten könne: mein Wesen, da y nicht possessivpronomen u. tw kein Infinitiv sei, die Tage her immer u. immer darüber nachgedacht, was Sie eigentlich mit Ihrer Bemerkung meinen. In sämtlichen chamito-semitischen Sprachen ist doch -y.i-, y- das Possessiv der prima singularis. Was kann das mit demselben verbundenen Wort anderes sein als ein Substantiv oder als ein Infinitiv? tw-y zeigt doch die gleiche Konstruktzion [sic] wie das entsprechende kw-y, vgl. juy. 16 Note 1. Vielleicht meinen Sie mit Ihrer Bemerkung etwas anderes u. ich habe Sie nicht recht verstanden: - ?
Aus dem ganzen Tenor Ihres Schreibens fühle ich heraus, daß Sie mit meiner Arbeit nicht besonders einverstanden sind, aber das wäre für mich recht fatal. Wenn schon der weise Meister bedenklich den Kopf schüttelt, was ist dann von den halbgelehrten Konservativen zu erhoffen? Und doch ist meine ganze Theorie in mir nicht spontan u. ohne Prüfung entstanden, sondern im Laufe der Jahre wärend der Bearbeitung der kuschitischen Sprachen allmählig gereift. Allerdings sind das zwei ganz verschiedene Dinge: von etwas überzeugt sein – und Andere davon überzeugen. Aber in meinem Fall wie das letztere ohne allzu weitschweifig u. ermüdend zu werden, anfangen? Die kuschitischen Sprachen kennen nur sehr |2| wenige Sprachgelehrte u. ohne diese Kenntnis ist ein überzeugender Beweis kaum denkbar. Die Semitisten verhalten sich zu den kuschitischen Studien gegenwärtig beinahe so, wie ehedem die klassischen Philologen zu den indogermanischen Forschungen. Als Student der Universität Wien hörte ich den Lateinprofessor seinem Aerger Ausdruck geben, wie man so pietätlos schwatzen könne, die Perser, diese Barbaren sollten Verwandte der Griechen u. Römer sein!
Brockelmann schreibt eine Grammatik der semitischen Sprachen 2u. geht auf das Chamitische Gebiet überhaupt gar nicht ein u. ich bin überzeugt, daß er auch tatsächlich keine der chamitischen Sprachen kennt, sonst könnte er sie unmöglich ignorieren. Wenn also so etwas am grünen Holz passiert, was ist vom dürren, von den Berufssemitisten zu erwarten. Ich will nicht ins Räsonieren geraten u. schließe für heute also lieber.
Mit den herzlichsten Grüßen
Ihr
L Reinisch
1 Es folgen koptische Schriftzeichen - siehe gescanntes Original.
2 Carl Brockelmann, Grundriß der vergleichenden Grammatik der semitischen Sprachen in 2 Bänden (1 Laut- und Formenlehre; 2 Syntax), Berlin: Reuther & Reichard, 1908 u. 1913.