Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (10-09200)

von Leo Reinisch

an Hugo Schuchardt

Wien

08. 01. 1908

language Deutsch

Schlagwörter: language Semitische Sprachenlanguage Germanische Sprachen Brockelmann, Carl Wien

Zitiervorschlag: Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (10-09200). Wien, 08. 01. 1908. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2021). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8827, abgerufen am 11. 12. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8827.


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LEO REINISCH. Wien, 8.1.08
VIII/2, Feldgasse 3

Lieber Freund,

Ich danke für Ihre freundlichen Wünsche und erwidere sie herzlichst.1 Was nun mein im Druck befindliches Buch anlangt,2 so habe ich dasselbe für Semitisten u. Sprachforscher überhaupt geschrieben, von denen ich zum größten Teil voraussetzen kann, daß sie vom Kuschitischen wenig oder nichts gehört haben.3 Deshalb habe ich denn auch alles Kuschitische, das ich für meine Durchfürung benötige, in solchem Umfang mitgeteilt, daß der Leser meinen Ausführungen folgen u. sie beurteilen kann. Wer noch speziell im Kuschitischen sich umgesehen hat, wird natürlich besser daran sein, aber zur Beurteilung meines Buches hat er das Kuschitische nicht unbedingt nötig. Allerdings ist es wol unerläßlich, meine Ausfürungen genau zu verfolgen, sonst verliert der Leser nur seine kostbare Zeit.

In principio erat verbum!4 Da haben Sie ja wol recht. Aber das verbum, das uns in den schriftlichen Urkunden entgegen tritt, ist kein Urprodukt mer, sondern hat bereits eine Geschichte hinter sich. Wie die Steinhauer der vorhistorischen Zeit gesprochen haben, wissen wir ja nicht, da sie uns leider keine geschriebenen Romane, nicht einmal Gebete oder Flüche hinterlassen haben. Die grammatischen Formen, die uns aus den ältesten Urkunden zugänglich sind, haben hinter sich eine vieltausendjährige Sprachentwickelung. Wenn Sie nun sagen, „daß die kuschitische Konjugazion verhältnismäßig jung ist“, so haben Sie nach dem eben Gesagten recht, aber ist repräsentiert u. z. die Konjugazion im Agau4 die älteste Form der Konjugazionen unter sämtlichen chamito-semitischen Sprachen.5

|2|Meine beurteilung über das -a in qatal-a im Zusammenhang mit -ya in yaxtula habe ich pg. 8 gegeben; ich wüsste nicht, was gegen diese Gleichung sprechen könnte. Das Wort lolís Tausendfuß, habe ich in Amideb6 aufgezeichnet bei Gelegenheit, als dieses Tier besichtigt wurde. Im Bede-deutschen (??) Teil ist das Wort durch Vergeßlichkeit meinerseits ausgefallen; lolíš,noliš ist ein davon ganz verschiedenes Wort, ein Rückverweis von noliš auf lolíš ist ein Druckfehler eingeschlichen, das Wort muß lolíš, nicht lolís heißen.

Brockelmann’s Vgl. sem. Gr.7 Ist sehr rückständig. Br. trägt fleißig zusammen, hat aber kein selbständiges Urteil. Eine vergleichende Gr. der semitischen Sprachen ist ohne Zuziehung der Gawilischen überhaupt ein mißliches Ding. Und [was] für brauchbare Resultate würde jemand erzielen, der zb. eine vgl. Gr. der germanischen Sprachen schriebe ohne Berücksichtigung der übrigen indogermanischen? Da er sich auf das Chamitische nicht einläßt, so kommt er auch zu fürchterlichen (??) Aufstellungen, wie zb. daß s nicht in h übergehen könne.

Mit den herzlichsten Grüßen

Ihr
LReinisch

|3|Ich war zu Weihnachten auf Reinischhof,8 wärend welcher Zeit am Buche nicht gesetzt worden ist. Morgen gehen Ihnen aber die Aushängebogen 5 u. 6 zu.


1 Vermutlich zum Jahreswechsel.

2 Reinisch, Das persönliche Fürwort und die Verbalflexion in den chamito-semitischen Sprachen, Wien: Hölder in Komm., 1909 (Kaiserliche Akademie der Wissenschaften. Schriften der Sprachenkommission, 1).

3 „Die Kuschitischen Sprachen sind ein Primärzweig der afroasiatischen Sprachfamilie und werden im Nordosten Afrikas, vor allem am Horn von Afrika, gesprochen. Bedeutendste Einzelsprachen sind das von etwa 30 Millionen Menschen gesprochene Oromo“ ( wikipedia).

4 Johannes 1,1 (Vulgata). Hier auf die das menschliche Sprechen bezogen, wobei verbum nicht mehr als „Wort“, sondern als „Verb“ gedeutet wurde.

4 Die Agaw (auch Agau, Agaou), Gruppe von Ethnien in Nord-Äthiopien und Eritrea.

5 Satzbau unklar.

6 Orts- und Flußname in Eritrea.

7 Carl Brockelmann, Grundriß der vergleichenden Grammatik der semitischen Sprachen, Berlin: Reuther & Reichard, 1908, 2 Bde.

8 Dies ist der von Reinisch und seiner Frau Luise 1893 gekaufte Schwaighof in Sommereben (heute Gem. Greisdorf bei Stainz, früher möglicherweise Gem. Ligist). 1897 hat Reinisch den Hof wieder verkauft und zeitweise bei seinem Verwalter Lesak, der mit seiner Hilfe in der Nähe von Maria Lankowitz einen Bauernhof gekauft hatte, und später, ab 1917, bei dessen Sohn, dem Arzt Dr. Lesak,in Lankowitz gewohnt (frdl. Auskunft von Dr. Gerfried Pongratz).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 09200)