Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (01-09191)
von Leo Reinisch
an Hugo Schuchardt
29. 10. 1894
Deutsch
Schlagwörter: Kaiserliche Akademie der Wissenschaften (Wien) Idiomatik Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften (Berlin) Ägyptisch Semitische Sprachen Sanskrit Persisch Koptisch Baskisch Berberisch Giacomino, Claudio Wien
Zitiervorschlag: Leo Reinisch an Hugo Schuchardt (01-09191). Wien, 29. 10. 1894. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2021). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8818, abgerufen am 15. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8818.
Orientalisches Institut der k. k. Universität
Wien, den 29. October 1894
Hochverehrter Herr College,1
Um Ihnen auf Ihre Frage Antwort geben zu können, war ich heute in der A.bibliothek,2 um die fragliche Abhandlung von Giacomino3 zu lesen, fand aber das Supplement zu Ascolis Arch. glott. nicht vor.4 So muß ich mich denn vorläufig begnügen, etwas vage u. unbestimmte Antwort zu geben.
Vor allem möchte ich darauf aufmerksam machen, daß das Ägyptische der Denkmäler (Altägyptisch) grammatisch keineswegs so alte Formen gegenüber den übrigen semitischen Sprachen aufweist, wie etwa das Sanskrit gegenüber den anderen indogerman. Sprachen, im Gegenteil verhält sich Altägyptisch in grammat. Beziehung z. b. gegenüber dem kuschitischen Idiom der Bilin (bogos),5 wie etwa Neupersisch zum Sanskrit; und natürlich hinkt hier der Vergleich im einzelnen, trifft aber im Großen zu. Andererseits ist das Koptische nicht als Tochtersprache des Altägyptischen aufzufassen, sondern vielmehr als Volkssprache gegenüber der vielfach durch Literatur so verfeinerten u. abgeschliffenen Schriftsprache, so daß gar nicht selten namentlich in fonetischer Hinsicht im |2| Koptischen ältere Formen vorliegen, als im Altägyptischen. Wenn man nun bedenkt, daß wir in der altägypt. Schrift (analog dem Semitischen) meist nur die Wörter im consonantischen Gerippe besitzen u. die vocalische Schreibung in der Regel gewönlich nur in Fremdwörtern durchgeführt erscheint, wärend im Koptischen stets die Vocale geschrieben sind, so möchte ich die Anwendung des Koptischen statt des Altägyptischen bei vergleichendem Studium nicht für verwerflich erklären, namentlich für solche Forscher, die mit dem Detail der Hieroglyphenkunde nicht völlig vertraut sind.
Auf Ihr spezielles Beispiel eingehend wage ich natürlich nicht zu entscheiden, ob baskischen wir sind, mit dem Koptischen e u. ere in irgend einem Zusammenhang stehen. Übrigens führt Kopt. E 6, e u. ere sind also zwei grundverschiedene Formen od. vielmehr Wörter.
Hinsichtlich der Veröffentlichung Ihrer Recension steht Ihnen selbstverständlich unsere Zeitschrift zur Verfügung,7 die ägyptische in Berlin nimmt comparative Arbeiten nicht auf, eher würde die ZdDMG. einen solchen Artikel nemen, aber dort könnte es Ihnen passiren, daß bei der Fülle von einlangendem Material der Aufsatz ein Jahr lang ungedruckt bleibt, besonders wenn er |3| etwas umfangreicher sein sollte. – Ich erfahre erst aus Ihrem Schreiben, daß nun über Bask. u. Berberisch v. Gabelentz auch ein selbständiges Buch8 erschienen ist; ich kenne bisher nur seine kurze Abhandlung in den Schriften der Berl. Akademie.9
In aufrichtiger Hochachtung grüßt
Ihr
ganz ergebener
Reinisch
1 In der folgenden Textwiedergabe werden alle Wörter, Namen und Ausdrücke, die Reinisch in lateinischen Buchstaben schreibt, kursiviert; die Passagen in deutscher Kurrentschrift sind recte.
3 Claudio Giacomino (1848-1923), ital. Sprachwissenschaftler; vgl. HSA 03661-03690. Vgl. Benvenuto A. Terracini, In memoria di Claudio Giacomino, Turin: Sten Grafica, 1924.
4 Giacomino, Claudio (1895) Delle relazioni tra il basco e l'egizio. Supplementi periodici all'Archivio Glottologico Italiano. Seconda dispensa, 14-96.
5 Blin, Bilin oder auch Bilen, kuschitische Sprache, die heute in Eritrea gesprochen wird..
6 Es folgt ein Text mit koptischen Schriftzeichen - siehe gescanntes Original
7 Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes (WZKM), Selbstverlag des Instituts für Orientalistik, Alfred Hölder, K. K. Hof- und Universitäts-Buchhändler, 1887 ff.
8 Georg von der Gabelentz, Die Verwandtschaft des Baskischen mit den Berbersprachen Nordafricas. Hrsg. von Albrecht Graf von der Schulenburg, Braunschweig: Sattler, 1894.
9 Georg von der Gabelentz, Baskisch und Berberisch, 1893, Sonderabdr. aus: Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin: Philosophisch-historische Classe; 31.