Jakob Jud an Hugo Schuchardt (112-05226)
von Jakob Jud
an Hugo Schuchardt
Unbekannt
15. 09. 1924
Deutsch
Schlagwörter: Universität Turin Atlante Linguistico Italiano Schuchardt, Hugo (1924)
Zitiervorschlag: Jakob Jud an Hugo Schuchardt (112-05226). Unbekannt, 15. 09. 1924. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8592, abgerufen am 09. 12. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8592.
15. IX 24
Verehrter Meister!
Zunächst warmen Dank für Ihre Abhandlung über den Kreisel,1 die ich in den nächsten Tagend eingehend zu studieren gedenke und ebenso herzlichen Dank für das Interesse an unserem Atlass [sic]. Wir haben in der Tat nach einem vierteljährlichen Unterbruch (Scheuermeier war 4 Monate in Paris) die Aufnahmen wieder aufgenommen. Sch. hat diesen Sommer die Toscana erledigt und hat Umbrien in Angriff genommen. Und wir gedenken solange nach Süden zu gehen als uns |2| das Geld reicht oder unsere italien. „Freunde“ erklären: so jetzt sind wir bereit weiterzufahren.
Die Frage der Zusammenarbeit schwebte uns natürlich von Anfang an vor: Schritte, die Benedetto Croce2 als Unterrichtsminister in dieser Beziehung unternahm, scheiterten am intransingenten [sic] Nationalismus M. Bartolis,3 der von einer Mitarbeit der „tedeschi“ (die er mit etlichen weiteren freundlichen Epitheta belegte) absolut nichts wissen wollte; lieber keinen Atlass als einen mit uns! G. Bertoni4 versuchte seinerseits diese Zusammenarbeit zu erlangen, wiederum scheiterte er an Bartoli. [Er erklärte uns darauf, von dem |3|Unternehmen sich ganz zurückziehen zu wollen; ob er das getan hat, wissen wir zur heutigen Stunde nicht]. Bartoli verkündete, dass die Aufnahmen des ital. Atlanten Herbst 1922 beginnen sollten: aber, soviel wir sehen, wurde noch nichts geleitet. Neujahr 1923/24 erliess dann die Società friulana einen Prospekt, der uns in zwei Auflagen vorlag (durch Vermittlung eines Freundes): gegen dieses Projekt liefen Sturm Merlo5 und Crescini,6 die im Namen der Accademia dei Lincei und des Instituto veneto beim Minister Einspruch erhoben.
Wir haben das Projekt, wie es in der Auflage Neujahr 1923/24 vorlag,7 genau |4| geprüft: wir halten es für kaum durchführbar im Rahmen der nächsten 10 Jahre, aber wir überlassen es den anderen, selbst Erfahrungen zu sammeln und dann einmal die Fakta mit ihrem Propekt zu vergleichen.8 Wir machen ruhig vorwärts: wir haben jetzt 280 Aufnahmen im Kasten und haben nun Zeit, auch zuzusehen, wie die anderen diese Leistung uns nachmachen. Und selbst wenn der Atlass der ital. Forscher einst beendigt sein wird, so wird unser Atlass seine volle Existenzberechtigung neben dem anderen bewahren und vor allem, so hoffen |5| wir, dem unbeschränkten Idealismus der drei Initianten ein ehrendes Zeugniss ausstellen. Wir werden sicher als die ersten auf den Plan treten, denn Ende 1925 hoffen wir fertig zu sein 1) bis Rom 2) eventuell eine Skizze von Süditalien und Sizilien beizufügen.
Und nun noch ein Wunsch: könnten Sie mir eventuell für einige Tage die Ihnen zur Verfügung gestellten Pläne und Prospekte zur Einsicht überlassen: wir ändern ja nichts mehr an unserem Plan, der seit Jahren nun festliegt; wohl aber interessiert es uns zu wissen, was die Initianten |6| seit Neujahr 1923 gelernt haben, da Sie den Prospekt ihres Atlanten in die Welt hinaussandten.
Letzten Frühling wollte Schiaffini9 am ital. Geographencongress über unseren Atlanten eine Mitteilung machen: er wurde durch einen fulminanten Brief (der schäumend vor Wut war gegen die ,sguizzeri‘, deren Werk nichts wert sei) von Bartoli so eingeschüchtert, dass er darauf verzichtete. Wir arbeiten: sie sollen nur zeigen, was sie leisten.
Scheuermeier träumte immer einmal, Sie noch aufzusuchen: wie wäre es, wenn einmal die drei Schweizer Ihnen einen Besuch machen würden?
Warmen Gruss und herzliches Gedenken
von Ihrem
JJud.
1 Schuchardt, „Der Kreisel im Baskischen. Zu Rev. 1923, 676 ff.“, Revista Internacional de Estudios Vascos / Revue International des Études Basques 15, 1924, 351-360.
2 Benedetto Croce (1866-1952), italienischer Philosoph, von 1920-21 Ministro della Pubblica Istruzione del Regno d’Italia; vgl. HSA 02034-02035.
3 Matteo Giulio Bartoli (1873-1946), bedeutender und einflussreicher ital. Linguist; im damals österr. Labin (Albona) in Istrien geboren, ab 1907/08 Prof. in Turin; vgl. HSA 00539-00550.
4 Giulio Bertoni (1872-1942), ital. Sprachwissenschaftler; vgl. HSA 00945-00951.
5 Clemente Merlo (1879-1960), ital. Romanist; vgl. HSA ß7074-07113.
6 Vincenzo Crescini (1857-1932), ital. Romanist; vgl. HSA 02030-02033.
7 Zur Geschichte dieses Projekts (ALI) vgl. die Homepage: „Nel 1924, sotto la direzione di M. G. Bartoli (Albona, Istria, 1873 - Torino, 1946) e su iniziativa della Società Filologia Friulana ,G. I. Ascoli‘, viene avviato presso l’Istituto omonimo, annesso alla cattedra di Linguistica (poi Glottologia) dell’Università degli Studi di Torino, il progetto dell’Atlante Linguistico Italiano (ALI), ossia di una raccolta ordinata e sistematica di carte sulle quali sono riprodotte, per ogni località italiana esplorata, le corrispondenti traduzioni dialettali di un concetto o nozione o frase (che fa da titolo alla carta) raccolte dalla viva voce dei parlanti.“ – Der erste von inzwischen neun Bänden erschien 1995.
8 Vgl. im Zusammenhang Hans Goebl, „ 24 La geografia linguistica “, in: Manuale di lingustica italiana (MLR 13), ed. Günter Holtus / Fernando Sánchez Miret, Berlin: de Gruyter, 2016, 553-580, hier bes. 557 f.; immer noch nützlich Jud, „ La valeur documentaire de l’Atlas linguistique d’Italie et de la Suisse méridionale “, Revue de Linguistique Romane 4, 1928, 251-289.
9 Afredo Schiaffini (1895-1971), ital. Romanist und Bibliothekar; vgl. HSA 10044-10048. Der achte Congresso geografico italiano fand 1921 in Florenz, der neunte 1924 in Genua statt.