Jakob Jud an Hugo Schuchardt (110-05224)

von Jakob Jud

an Hugo Schuchardt

Unbekannt

15. 12. 1923

language Deutsch

Zitiervorschlag: Jakob Jud an Hugo Schuchardt (110-05224). Unbekannt, 15. 12. 1923. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8590, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8590.


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15 XII 23

Verehrter Meister!

Vor wenigen Tagen erhielt ich von Prof Spitzer die erfreuliche Nachricht, dass das Brevier (in 1550 Ex. gedruckt) erschöpft sei:1 ich gratuliere Ihnen herzlich zu diesem Erfolg: Sie haben es noch erleben dürfen, dass Ihre Gedanken ein Echo unter den heutigen Sprachforschern finden wie es keinem anderen war. Wenn es nur möglich wäre, der zweiten Auflage ein Verzeichniss aller Wörter beizulegen, die Sie im Laufe Ihrer Arbeiten berührt haben, damit so ein Hülfsmittel |2| geschaffen würde, das den Sprachforschern ein ständiger Begleiter sein könnte!

Sie werden indessen von Ihrem lieben Freunde de Urquijo direkte Nachrichten über den Vortrag in Bilbao besitzen:2 die beiden in Betracht fallenden Gelehrten: de Urquijo und Lacombe sind für die Idee des Atlas längst gewonnen, aber Atzkue scheint (aus Prestigegründen?) das Haupthindernis zu sein. Und dann fehlt auf spanischer Seite der Explorator à la Scheuermeier, der darauf los geht und nicht rastet & ruht, bis das Ziel erreicht ist. Zwar scheint ein jüngerer Deutsch-Baske, Herr Beer,3 sich für diese |3| Aufgabe vorzubereiten, aber ob er das nötige Draufgängertum hat? Auf jeden Fall würde mich interessieren, was Sie über den Stand des baskischen Atlanten wissen: seitdem ich heimgekehrt bin hat mir erst Lacombe einmal geschrieben, um mich zu versichern, dass die französischen Baskologen (est favel4) den Atlas anpacken wollen. Qui vivra verra.

In Catalonien ist wohl gegenwärtig der frischeste Zug in der Sprachwissenschaft (soweit sie in Spanien Pflege findet) bemerkbar: da sind eine Reihe von jungen Forschern an |4|der Arbeit, Sach- und Wortforschung in der breitesten Form in die Tat umzusetzen. In Madrid herrscht noch jedes5 Ideal vor, das in Frankreich durch Gaston Paris verwirklicht war: Litteraturgeschichte, Philologie und Sprachforscher in einer Person zu sein, wobei die Sprachforschung am meisten Schaden leidet, denn prinzipielle Förderung in der Erkenntnis des sprachlichen Mikrokosmos ist leider von solch eingestellter Forschung nicht zu erwarten. Es liegt eine gewisse Tragik in dieser ewigen Unterordnung der romanischen Sprachforschung gegenüber der Philologie und Litteraturgeschichte: machen nicht heute |5| die HH. Literarhistoriker den Anspruch, vollgültige Philologen zu sein, selbst wenn sie nie über ein Problem der roman. Sprachgeschichte tiefer nachgedacht haben? Ich sehe nur eine Lösung, die leider von Tobler und Morf verhindert worden ist: eine stärkere Lockerung der Aufgabenkreise des Litterarhistorikers und Linguisten, so wie sie in Wien und Zürich durchgeführt ist. Man verlangt doch von keinem Indogermanisten, daß er griechische oder lateinische Litteratur lese, warum soll dem Romanisten all das aufgelastet werden? Die mangelnde Stosskraft der romanischen Sprachforschung beruht z. T. auf dieser durch das Übermass der Pflichten verkümmerten |6| Enge des Horizonts die den meisten nicht erlaubt, mit der Sprachforschung der Indogermanisten und Semitologen in Kontakt zu bleiben. So nun aber der Klage genug: ich wollte nur einen Beitrag geben zur Erklärung der Tatsache, dass, trotz aller günstigen Vorbedingungen, die romanische Sprachforschung immer noch wenig bei den anderen Paralleldisciplinen sich durchzusetzen vermag. Die Polyscientia unserer Romanisten ist für unsere Forschung nicht günstig.

Ihnen, verehrter Meister, entbieten meine Frau & ich herzliche Wünsche zu den kommenden Festtagen und ein Glück auf für 1924!
Stets Ihr

JJud.


1 Spitzers Urteil über Jud ist zwiespältig, vgl. z. B. Brief 379-11135 (ed. Hurch, 2006, 310). Möglich, dass Spitzer eifersüchtig war („Juds Haltung ist nicht neutral und auch nicht ganz offen. … Auch sonst ist mir in Juds neuerlicher Haltung einiges nicht klar. So sein Steinreichtum, den er aber deutschen gelehrtem Schaffen u. Gelehrtentum nicht zuzuwenden scheint“). Leider wissen wir nicht, wie Schuchardt derartige Bemerkungen aufgenommen hat.

2 Julio de Urquijo (San Sebastián, 24.11.1923) an Schuchardt: „No creo he dicho a V. aún que oí la conferencia que el Sr. Jud leyó a Bilbao. Espero publicarla“ (ed. Hurch-Kerejeta, 1997, 322). In der Revista Internacional de los Estudios Vascos findet sich jedoch kein Abdruck.

3 Gerhard Bähr / Baehr (1900-1945), deutscher Baskologe; vgl. HSA 00400-00414.

4 Lesart unsicher; i. S. v. „es geht das Gerücht“ (afr.)?

5 gem. „jenes“?

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05224)