Hugo Schuchardt an Jakob Jud (103-HSJJ33)

von Hugo Schuchardt

an Jakob Jud

Graz

24. 04. 1922

language Deutsch

Schlagwörter: Hugo-Schuchardt-Brevier Schuchardt, Hugo (1922) Richter, Elise (1922) Balassa, József (1922) Bertoni, Giulio (Hrsg.) (1922) Schuchardt, Hugo (1922) Schuchardt, Hugo (1922) Schuchardt, Hugo (1922) Marr, Nikolaj Jakovlevič (1923) Schuchardt, Hugo (1921)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Jakob Jud (103-HSJJ33). Graz, 24. 04. 1922. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8583, abgerufen am 03. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8583.


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Graz 24.4.‘22

Lieber Freund.

Vor meinem 80sten hatt es mich ernstlich gebangt, besonders weil es mir unwahrscheinlich erschien daß ich – als Einschichtiger1 und immer Abgespannter – die mannigfachen Dankespflichten brieflich würde erledigen können. „Der Not gehorchend, nicht [bloß] dem eignen Triebe“2 schmiedete ich einige Verslein und ließ sie drucken; ohne sie hätte ich kein Auslangen gefunden.3 Aber an identischen Noten habe ich nie Geschmack gehabt; und zwar an |2| geschriebenen so wenig wie an gedruckten. So habe ich mich denn nach Kräften bemüht, in einer Unzahl von Briefen und Karten zu individualisieren. Und bedenken Sie, nur bei Tageslicht kann ich schreiben und bei trübem recht mühselig. Ich hatte vor allem die Schreiben der Akademien, der Fakultäten, und sonstiger amtlicher Stellen zu beantworten, dann die literarischen Widmungen (Zauner, Hubschmid, Wartburg, Friedwagner, El. Richter, Steiner, Balassa, Puşcariu* [Wenn Sie dessen: Din perspectiva dicţionarului, nicht haben sollten, schicke ich einen von den 3 mir zur Vergügung gestellten Exemplaren], R. Riegler …)4 endlich die Briefe aus dem Laienpublikum, die ich, besonders wenn sie an alte Zeiten erinnerten, am ungernsten vernachlässigt hätte. Daneben der unausgesetzte Briefwechsel mit Spitzer und eine sehr anstren- |3| gende und zeitraubende Korrekturen. Ich wundere mich daß ich das Alles überstanden habe; aber wenn ich jetzt im allgemeinen sehr abgespannt bin, so ist das nicht eine Folge davon, sondern meine alljährliche Frühjahrsabspannung. Zum Glücke habe ich mich der feierlichen Promotion entrungen, die kurz zuvor ein gleichaltriger der juristischen Fakultät durchgemacht hatte, mit allem Tamtam in der Aula. Nicht einmal die feierlichen Ansprachen in der Wohnung haben sie durchsetzen können; nur mit dem Diplom haben sie mich überrascht. Welcher Widersinn! Ich bin Bonner, ordnungsmäßiger Doktor, dann Bolognaer, Budapester, Christianiaer, weiter Bonner erneuter und Grazer „nostrifizierter“ Doktor - |4| und nun noch einmal Doktor! Man hat aus dem Satze: „er wird ehrenhalber zum Doktor promoviert“ gemacht: „er wird zum Ehrendoktor promoviert“. In einer Hinsicht hat man mich doch breitgeschlagen; trotz meines anfänglichen Widerstrebens hat ein anerkannt tüchtiger Bildhauer von mir ein Flachrelief aufgenommen; ein sehr gemütlicher Ursteirer – er verglich mich zum Schluß mit Goethe, aber wie? „wissens der Goethe in Wien, auf dem Sessel, von dem die Wiener sagen, er sähe aus wie ein pensionierter Hofrat“.5

Das Alles habe ich Ihnen auseinandergesetzt, um Ihnen begreiflich zu machen, wie leicht ich etwas versäumt haben könnte und wie schwer eine motivierte Staffelung möglich gewesen wäre. Grüßen Sie den lieben |5| Hubschmied vielmals von mir; ich habe ihm am 9. Febr. nur eine Karte geschrieben, wobei ich das Bis dat qui cito dat6 in Rechnung gebracht hate.7 Den Turinern gegenüber fühle ich mich befangen, weil ich immer noch auf die längst angekündigte Misc. ling. warte;8 ich habe mich da, gegen Bertoni9 und Bartoli, für Blumenspenden zu bedanken. Gegen Sie habe ich doch schon am 9. Febr. das getan? Vielleicht aber zugleich die an mir gemachten Wiedertaufversuche erwähnt?10 Dann bitte ich wegen der Wiederholung um Nachsicht.

Als ultimum refugium bleiben mir noch die Sonderabzüge meiner Berliner Abhandlung: Zur Kenntnis des Baskischen von Sara;11 ich werde sie noch innerhalb dieses Monats erhalten (wenn es irgendwie geht); ich |6| habe darum gebeten, weil sich unser Porto am 1. Mai wieder auf das Drei- bis Vierfache erhöht. Davon habe ich genug Exemplare und wenn sie mich auf einige Versäumnisse aufmerksam machen wollten, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Es ist zwar eine baskologische Arbeit, aber ich beschäftige mich da mit den Betonungs- und den Mundartenfragen auch etwas im allgemeinen. Zugleich wird eine kurze Mitteilung über die längste, erst vor kurzem entdeckte iberische Inschrift (von Alcoy) mit kommen.12 Meinen Aufsatz in der RBasque: Heimisches und fremdes Sprachgut werden Sie erhalten haben (mit starken Druckfehlern);13 auf diesen Pfaden werde ich etwas weiter gehen müssen, die Japhetistischen|7| Studien von Fr. Braun und N. Marr regen mich dazu an.14 Wenn man wie Sie, auf Vorromanisches fahndet (Ihre letzten Etymologien habe ich noch nicht genau ansehen können),15 darf man auf das Vorarische Europas nicht verächtlich herabschauen – skeptisch wohl. Meine Problemas etimologicos im letzten Heft der RFE16 schicke ich Ihnen nicht; Sie haben ja das Heft selbst in der Hand – ich möchte Sie nur bitten, mir zu sagen ob Sie alles auf S. 402 verstehen. Mir kommen die Dinge recht unklar vor; das ist gewiß meine Schuld, nicht die des Übersetzers – ich habe keine Korrektur gelesen und die Worte des Originals sind mir nicht mehr gegenwärtig.

Der gute treue Pogatscher erfreut mich mit häufigen Be- |8| suchen; wir reden auch Wissenschaftliches miteinander, aber produzieren tut er nicht mehr. Er hat am 17. April seinen 70sten gefeiert.

Ich hoffe daß Spitzer an meinem Leichnam emporklimmen wird; selbst wer ihn tadeln wollte daß er eine Operation in corpore vili vorgenommen habe, wird ihm das Lob nicht versagen daß er sie mit Geschick, Fleiß und Originalität ausgeführt hat.17

Jetzt muß ich schließen, nachdem ich nur von mir geschrieben habe. Ich hatte mir das über Sie zu Sagende pour la bonne bouche aufgehoben und mag das nun nicht mit wenigen Worten erledigen. Also pazienza!18

Mit wärmsten Wünschen für meine Gönner und Wohltäter
Ihr getreuer

HSchuchardt


1 Einzelner, Alleinstehender.

2 Schiller, Die Braut von Messina.

3 Schuchardt, Fliegendes Blatt [Dank an die Schweizer Spender des Schuchardt-Breviers], Graz: Eigenverlag, 1922.

4 Vgl. die Übersicht „Würdigungen und Nachrufe“ (HSA), die alle Namen bis auf Elise Richter und József Balassa enthält. Elise Richter widmet ihr Büchlein Lautbildungskunde. Einführung in die Phonetik. Leipzig: Teubner 1922 „Hugo Schuchardt zum achtzigsten Geburtstag“. – Balassa Jószef, „ Schuchardt és a magyar nyelvtudomány“, Magyar Nyelvör 1922, 6-10 [=Schuchardt und die ungarische Sprachwissenschaft]; ebd. Leo Spitzer, „ Schuchardt 80-ik születése napjára “, 3-6 [=Schuchardt zum 80. Geburtstag].

5 Das Goethedenkmal in Wien und befindet sich an der Ecke Opernring / Goethegasse im 1. Bezirk Innere Stadt; es wurde von Edmund von Hellmer entworfen und am 15. Dezember 1900 enthüllt.

6 „Doppelt gibt, wer schnell gibt“.

7 Johann Ulrich Hubschmied (1881-1966), Schweizer Sprachwissenschaftlr; vgl. HSA 04874-04891.

8 Miscellanea linguistica dedicata a Hugo Schuchardt per il suo 80° anniversario (1922), Genf: L. S. Olschki, 1922 (Biblioteca dell' "Archivum Romanicum": Serie 2; vol. 3).

9 Giulio Bertoni (1878-1942) und Matteo Bartoli (1873-1946): die beiden ital. Romanisten lehrten zu diesem Zeitpunkt in Turin. Bertoni ist mit „Note etimologiche varie“ (S. 134-139) an den Miscellanea beteiligt, die ihrerseits keine über den Titel hinausgehende Widmung an Schuchardt enthalten.

10 Nicht klar, was gemeint ist.

11 Schuchardt, „Zur Kenntnis des Baskischen von Sara (Labourd)“, Abhandl. d. Berl. Ak. d. W, 1922, 1-39.

12 Schuchardt, „Die iberische Inschrift von Alcoy“, Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften 1922, 83-86.

13 Schuchardt, „Heimisches und fremdes Sprachgut“, Revista Internacional de Estudios Vascos / Revue International des Études Basques 13, 1922, 69-82.

14 Nikolaj Jakovlevič Marr, Der japhetitische Kaukasus und das dritte ethnische Element im Bildungsprozeß der mittelländischen Kultur. (Jafetičeskij Kavkaz i tretij ėtničeskij ėlement v sozidanii sredizemnomorskoj kul'tury, übers von Friedrich Braun), Berlin u.a.: Kohlhammer, 1923 (Japhetitische Studien zur Sprache u. Kultur Eurasiens; 2).

15 Jud, „ Mots d'origine gauloise?: deuxième série “, Romania 67, 1922, 481-510.

16 Schuchardt, „Problemas etimológicos“, Revista de filología española 8, 1921, 400-403.

17 Spitzer firmiert auf der Titelseite des Hugo-Schuchardt-Breviers als Herausgeber.

18 Erst im nächsten Brief 34 (8.5.1922) gratuliert Schuchardt Jud, eher „verklausuliert“, zu seiner Ernennung zum Zürcher Extraordinarius.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Jaberg-Archiv, Universität Bern (Institute für Romanische Sprachen und Literaturen und Jaberg-Bibliothek). (Sig. HSJJ33)