Jakob Jud an Hugo Schuchardt (102-05221)
von Jakob Jud
an Hugo Schuchardt
Unbekannt
17. 04. 1923
Deutsch
Schlagwörter: Hugo-Schuchardt-Brevier Neue Zürcher Zeitung Jud, Marie Hubschmied, Johannes Ulrich (1922) Heinimann, Siegfried (Hrsg.) (1992)
Zitiervorschlag: Jakob Jud an Hugo Schuchardt (102-05221). Unbekannt, 17. 04. 1923. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8582, abgerufen am 28. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8582.
17.IV.23 [recte 1922]1
Verehrter Meister,
Der in Aussicht gestellte Brief liess länger auf sich warten, als ich es geplant: aber die letzten drei Monate brachten soviel Unvorgesehenes, dass ich nicht die notwendige Ruhe fand, mein Versprechen einzulösen. Zuerst kam mein Vortrag über die tessinische Ortsnamenforschung (Mitte Februar), der mir ausserordentlich viel zu schaffen gab, dann wurde mein Vater schwerkrank, so dass er Wochen zwischen Leben und |2| Tod schwebte: hierauf meine Ernennung zum Extraordinarius an der Universität, die Grippe packte mich selber für acht Tage an; es folgte der Abschied vom Gymnasium, der mir schwer fiel und schliesslich in den letzten zwei Wochen die Ausarbeitung meiner Antrittsvorlesung, die am 10. Juni festgesetzt ist.2 Jetzt, vor Anfang des Semesters will ich noch rasch meine mich arg drückenden Briefschulden begleichen: das Versprechen, das ich Ihnen gegeben, drückt mich ganz besonders. |3| Indirekt durch Prof Spitzer habe ich erfahren, wie sehr das Brevier Ihren Wünschen entgegengekommen ist: es ist wirklich ein Monumentum, das berufen ist, Ihren Worten ein Echo zu sichern, wie es kaum einem Sprachforscher beschieden ist. Es wär eigentlich für uns interessant zu erfahren, welche im Brevier aufgenommenen Gedankengänge Sie heute zu modifizieren wünschten: für eine zweite Auflage wäre eine solche Revision mit den in Noten hinzuzufügenden neuen Fassung der Gedanken überaus wertvoll.3|4| Ich denke, dass Meillet nächstens Ihr Brevier zu besprechen im Sinne hat. Prof Spitzer hat sich wirklich sehr viel Mühe gegeben, die trefflichen Stellen zu gruppieren und durch Verweise auf Paralleltexte den Forscher zu fördern!
Mit dem kommenden Semester4 beginnt nun ein neuer Abschnitt in meinem Leben: nicht als ob ich restlos glücklich wäre (denn die Mittelschule bot mir im Französischunterricht ein seelisches Gegengewicht zur mehr rationalistischen Sprachwissenschaft), aber |5| anderseits muss doch die Concentration der Arbeit auf ein Gebiet und an einer Schule mir die Last vermindern. Dazu tritt nun der Abschluss der Mundartaufnahmen in Italien durch Herrn Dr. Scheuermeier in grössere Nähe (Oktober 1923) und da gilt es sich eingehend mit den Problemen der Drucklegung auseinanderzusetzen. Und bei der starken Betonung des Sachlichen in unseren Aufnahmen spielt die Darstellung des Sachlichen innerhalb der sprachlichen Formen eine sehr heikle Aufgabe, die Jaberg |6| und ich mit Hülfe einer Reihe von Probekarten zu lösen versuchen müssen. Also „une corvée immense“ erwartet die beiden Initianten.
Haben Sie einmal Herrn Dr J. U. Hubschmied geschrieben?5 Er hatte, wenn ich mich nicht täusche, einmal einige persönliche Worte von dem erwartet, den er stets so verehrt hatte und dem er auch einen der besten Huldigungsartikel gewidmet hatte.6
Sonst ist nicht viel zu erwarten in diesen Zeiten: Deutschland |7| wendet sich gegenwärtig ganz Spanien zu und die Sprachforschung ist gegenwärtig weniger denn je in den Universitäten als „aktuell“ empfunden; in Italien ist merkwürdige Sterilität in allen methodischen Fragen. Die Ermattung macht sich überall sehr stark fühlbar. Die „Dacoromania“ ist dagegen ein erfreuliches Symptom im Osten Europas.7
Wie ist Ihr Geburtstag in Graz gefeiert worden? Hat Ihre Fakultät sich an den Wünschen beteiligt? Lebt Pogatscher8 noch? Wohin |8| hat er sich zurückgezogen? Sie haben mir ja nie mehr von ihm etwas berichtet. Ist über den jungen Nedwed9 niemals mehr ein Bericht eingelaufen?
Aber nun soll mein Brief nicht allzu lang werden. Ihnen wünsche ich guten Frühling und stets starke Arbeitsfreude.
Mit herzlichen Grüssen verbleiben Ihre ergebene
M & J Jud10
1 Das Datum kann nicht stimmen, sondern muss „1922“ lauten. Jud wurde zum 9.2.1922 zum a. o. Prof. in Zürich ernannt, seine Antrittsvorlesung wurde am 10. Juni 1922 gehalten, wie Fn. 1 der Druckfassung bestätigt. Allerdings kann nur ein kleiner Teil dieses gelehrten und detaillierten Aufsatzes als Rede vorgetragen worden sein. Vgl. auch Schuchardts Brief 33 (24.4.1921). Es ist auszuschließen, dass Jud bis 1923 gewartet hätte, um Schuchardt seine Ernennung mitzuteilen.
2 Jud, „ Zur Geschichte zweier französischer Rechtsausdrücke “, Zeitschrift für Schweizerische Geschichte 2, 1922, 412-459.
3 Im HSA heißt es dazu: „Die Kritik [sc. Schuchardts] wurde von Spitzer und Schuchardt zum Anlaß genommen, erstens die Fehler zu beheben, zweitens das Verzeichnis der Druckschriften zu korrigieren und drittens – auf Schuchardts expliziten Wunsch hin – nicht unbedeutende Erweiterungen in textlicher Hinsicht vorzunehmen. So ist die zweite Auflage aus dem Jahre 1928 um mehr als 100 Seiten umfangreicher. Schuchardt war sogar mit dem Portraitbild, das Spitzer für den Frontispiz der ersten Auflage ausgewählt hatte, unzufrieden, so wurde auch dieses getauscht. Die zweite Auflage ist, dieser genannten Umstände wegen, die standardmäßig zitierte Ausgabe des Breviers. Die 14 Kapitel enthalten grundlegende Texte zu den meisten Arbeitsgebieten des Meisters. Ob aber die roten Fäden im Brevier so nahtlos zusammenlaufen, wie im Oeuvre selbst, bleibe dahingestellt. Doch insgesamt ergibt sich ein durchaus abgerundetes Bild von allgemein gehaltenen Schriften“ (Anmerkungen im HSA).
4 Sommer-Semester 1922.
5 Johannes Ulrich Hubschmied (1881-1966), schweizer. Sprachwissenschaftler; vgl. HSA 04874-04891. – Im NL Hubschmied (UA Augsburg) befinden sich keine Briefe Schuchardts.
6 Johann Ulrich Hubschmied verfasste in der Neuen Zürcher Zeitung einen Beitrag anlässlich des 80. Geburtstags Schuchardts am 4. Februar 1922.
7 Der erste Band der gleichnamigen Zeitschrift erschien 1921 mit der Jahreszahl 1920/21 in Cluj/Klausenburg.
8 Alois Pogatscher (1852-1935), österr. Anglist, Kollege Schuchardts in Graz. Er war seit 1911 krankheitshalber pensioniert.