Jakob Jud an Hugo Schuchardt (100-05217)

von Jakob Jud

an Hugo Schuchardt

Unbekannt

30. 01. 1922

language Deutsch

Zitiervorschlag: Jakob Jud an Hugo Schuchardt (100-05217). Unbekannt, 30. 01. 1922. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8580, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8580.


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30.I.22.

Verehrter Meister!

Der 80. Geburtstag, den Sie Ende kommender Woche feiern, ist für Ihre alten und jungen Freunde in Europa so recht der Anlass, wiederum zu gedenken all der Förderung, die Ihre Schüler (in der Auslegung, die Sie dem Wort geben) Ihnen verdanken. Nicht das blosse Ausweiten des Tatsachenmaterials, sondern die Sehnsucht nach weiten Horizonten haben wir alle bei Ihnen geholt: die innere Verknüpfung alles |2| Sprachgeschehens, mit psychichen, politischen und kulturellem Wandel haben Sie, verehrter Meister, uns immer wieder eingeschärft und, wenn wir Jüngeren, ohnmächtig dem gewaltigen Flug des Adlers zu folgen, etwa an unserem Können verzweifelten, dann hatten Sie ein gütiges Ermutigungswort gleich bei der Hand, um uns zu neuem Aufflug anzuspornen. Vor einigen Wochen skizzierte ich Herrn Steiner1 die Phasen des Einflusses, den Sie auf die schweizerischen Forscher ausgeübt haben: Ihre kleine, aber um so inhaltsreichere Schrift: Über die Lautgesetze2 hat wuchtig bei |3| der Generation Morf und seinen Schülern eingeschlagen: Sie erinnern sich wohl, mit welcher klaren Einsicht Morf3 in seiner Zürcher Antrittsvorlesung sich über die Bedeutung Ihrer Schrift geäussert hat. Die zweite Generation (Hubschmied, Jaberg und ich) standen in erster Linie unter dem Einfluss des Wortforschers, der neue Wege bahnte mit jener Kampfesfreude, die uns mitriss. So haben Sie, verehrter Meister, in dem Lande, zu dem Sie stets warme Liebe hegten, für Ihre Ideen Widerhall gewonnen und es danken dem Meister von Graz alle jene, die in der Forschung nicht Handwerksarbeit, sondern Künstlerwirken sehen wollen.

Ihr 80. Geburtstag wäre wohl, wenn der |4| Krieg nicht die Geister getrennt hätte, in der ganzen Sprachforschergilde in herzlichem Gedenken all Ihrer grossen Forschungsarbeit gefeiert worden: aber in der Not erkennt man seine wahren Freunde. Mögen am Samstag einige Briefe weniger bei Ihnen die Wünsche bringen, um so echter sind diejenigen der Gratulanten, die sich jetzt einstellen. Und wollen Sie, verehrter Meister, inmitten des Chorus freundlicher Stimmen, auch aus weiter Ferne die meine heraushören: sie ist nicht die lauteste, aber eine der herzlichsten.

Ihnen ein achtzigstes Jahr in voller Gesundheit wünschend, verbleibe ich in warmem Danke
Ihr

JJud4


1 Herbert Steiner (1892-1966), Germanist und Romanist; vgl. HSA 11236-11266.

2 Schuchardt, Ueber die Lautgesetze. Gegen die Junggrammatiker, Berlin: Oppenheim, 1885.

3 „In seiner Zürcher Antrittsvorlesung über das Studium der romanischen Philologie (1889) legte Heinrich Morf (1854-1921) Gewicht auf die Vermittlung von Schuchardts Auffassung über die sprachgeschichtlichen Vorgänge. Die Vorlesung ist abgedruckt in Morfs gesammelten Schriften Aus Dichtung und Sprache der Romanen , 2. Reihe, Straßburg 1911“ (Heinimann).

4 Heinimann, 1992, Nr. 24, 35-36.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05217)