Hugo Schuchardt an Jakob Jud (98-HSJJ31)

von Hugo Schuchardt

an Jakob Jud

Graz

24. 11. 1921

language Deutsch

Schlagwörter: Zeitschrift für romanische Philologielanguage Baskisch Meillet, Antoine (1921) Schuchardt, Hugo (1922)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Jakob Jud (98-HSJJ31). Graz, 24. 11. 1921. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8578, abgerufen am 22. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8578.


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Graz, 24. Nov. 21.

Lieber Freund,

Ihr unter „dicken Nebelschwaden“ abgesandter Brief1 ist hier bei wolkenlosem Himmel angekommen. Auch wir haben einige trüb-traurige Tage gehabt, sonst aber einen so prachtvollen Sommer und Herbst wie ich mich nicht entsinnen kann ihn je erlebt zu haben. Es ist das aber auch das einzige Gute das wir genossen haben und vorderhand noch genießen (neben Briand ↔ Ludendorff Robin |2| vaut bien Marion – dem Faschistenbrigantaccio, Oberschlesien, der Währungsnot usw. usw.).2 Ich freue mich daß Sie mit der Gattin sich eine schöne Reise nach dem Nordwesten geleistet haben; Sie scheinen mir einer solchen Ablenkung aus den Alltagsgedanken bedurft zu haben – aus des lieben H. Steiner, des geborenen Interviewers Mitteilungen glaubte ich ein wenig Niedergeschlagenheit bei Ihnen diagnostizieren zu können.3 Sie selbst deuten ja einige Ursachen davon an.

Das Studium der Romanistik wird, in praktischem Sinne überall abflauen; das habe ich |3| Ihnen schon vor Jahr und Tag gesagt; aber bei uns in weiteren Maßen, das heißt, wir haben, in Folge des Mangels an Büchern, nicht die Möglichkeit sie zu produzieren, wie wir wünschen, und wenn schon, nicht die zu veröffentlichen. Zu etymologisieren wenn man das lexikographische Material nicht vollständig besitzt, ist Stümperei. Übrigens liegen meine letzten, recht unbedeutenden Etymologien seit 1920 bei Hilka4 und ich habe schon fast vergessen was sie besagen. Die Zeitschrift stockt so bedenklich – die Übersiedelung Hilkas nach Göttingen macht es nicht völlig begreiflich – daß ich |4| schon denke, Sie werden Ihres Wohltätigkeitsamtes nun überhoben werden. Übrigens habe ich Ihnen noch für Meillets Sammelbuch nicht gedankt;5 ich glaubte es von ihm selbst erhalten zu haben, wie sonstige Veröffentlichungen von ihm. – Als Baskologen allein stehen mir die beiden Möglichkeiten offen. Ich schickte vor kurzem einen längeren Deutschen Aufsatz nach San Sebastián für die RB;6 Empfangsbestätigung: „ist sofort in die Druckerei gewandert“. Griera7 schreibt mir deutsch. Beiläufig gesagt, es schrieb mir vor ein paar Monaten ein ganz junger Baske, eigentlich wohl ein baskisierter Spanier, Apraiz |5| mit Namen,8 der Mitglied der bask. Akademie (recte: der Akademie für baskische Sprache) ist, die Akademie wolle ihn behufs weiterer sprachwissenschaftlicher Studien (Paris hat er schon hinter sich) an deutsche Universitäten schicken. Ich habe ihn, da er an mich um Rat gewiesen wurde, geantwortet, er möge zunächst nach Zürich und besonders zu Ihnen gehen und sich dann weiter empfehlen lassen. Sie könnten ihn am besten für den geplanten baskischen Sprachatlas vorbereiten – dachte ich, ich weiß nicht, ob ich das in meinem Brief ausdrücklich gesagt habe.9 Wenn Sie ihn dann weitergeben, so berücksichtigen Sie daß er noch nicht Deutsch kann und daß er nicht einem der leider vielen undeutlich Redenden in die Hände falle. |6| Nun eines, was mich zur sofortigen Beantwortung Ihres Briefes bestimmt hat. Gartner schrieb mir vor vierzehn Tagen, er fürchte seine „Ladinischen Wörter“ würden ein Opus posthumum bleiben10 (wie wahrscheinlich meine bei der Berl. Akad. erliegende baskol. Arbeit). Niemeyer hat ihm mitgeteilt, an ihren Druck (in den Beiheften) wäre jetzt nicht zu denken: auf Hülfe der Wiener Akademie wagt er nicht zu hoffen – und da hat er ganz recht. Da ist mir eingefallen daß die rätoromanische Gesellschaft oder wie sie sich betitelt11 (an die ich durch Ihre Hand im vorigen Jahr die engadiner Briefe aus dem 17. Jhrh. übermittelte) vielleicht helfen könnte; Sie hatten mich ja ersucht, ich möge Gartner dazu bestimmen, seinen ladinischen Nachlaß dahin zu vermachen. Es ist das freilich etwas anderes als selbständig die Sache herauszugeben. Bitte nur um eine Karte mit vorläufiger Auskunft. – L. Spitzer ist zum Prof. (a. o.) ernannt worden.12 Sie werden es in den Zeitungen gelesen haben; ob er – was ja das Wesentliche ist – mit Gehalt, weiß ich noch nicht. – Ive hat, da er die 70 erreicht hat, jetzt sein Ehrenjahr.13

Herzlich gr Ihr
Sch.

An Scheuermeier habe ich eben einige Zeilen geschrieben.


1 HSA 05215.

2 Anspielungen auf aktuelle politische Ereignisse.

3 Kein entsprechender Brief (oder Postkarte) Steiners mit einer derartigen Mitteilung ist erhalten.

4 Alfons Hilka (1877-1939) war 1919 von Greifswald nach Göttingen gewechselt; er hatte 1920 (Band 40), nach der Übersiedelung Ernst (Ernest) Hoepffners nach Straßburg, die Herausgeberschaft der Zeitschrift für romanische Philologie übernommen.

5 Antoine Meillet, Linguistique historique et linguistique générale, Vol. 1, Paris 1921 (Collection linguistique; 8).

6 Schuchardt, „Heimisches und fremdes Sprachgut“, Revista Internacional de Estudios Vascos / Revue International des Études Basques 13, 1922, 69-82.

7 Antonio Griera y Gaja (1887-1974), span. Romanist und Katalanist. Der Brief, auf den Schuchardt anspielt, scheint nicht erhalten zu sein; vgl. jedoch HSA 09-03979.

8 Odón de Apraiz Buesa (1896-1984), span. Baskologe; vgl. HSA 00139.

9 José Velez de Mendizabal Azkarraga schreibt in seinem Eintrag ( euskonews) dazu: „De Francia, y siguiendo el consejo del lingüista experto en euskara Hugo Schuchardt, marchó a Suiza, a estudiar con Cristianis Uhlenbeck. En Zurich fue colaborador temporal del experto en lenguas romances Jakob Jud. Además de Jud, también tuvo la oportunidad de estudiar con el lingüista Louis Gauchat, que ejercía en esa universidad“.

10 Vgl. insbesondere HSA 03542, 03544, 03547, 03548, 03551.

11 Gemeint ist die 1919 gegründete Lia Rumantscha mit Sitz in Chur, vgl. Gartners Brief 03549.

12 Vgl. Spitzers Brief (22.11.1921) an Schuchardt (HSA 317-11078), in dem zwar von der „Dienstbezeichnung außerordentlicher Professor“ die Rede ist, diese aber nur als „Ehrung“ bezeichnet wird.

13 Vgl. Brief 30 (13.8.1921).

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Jaberg-Archiv, Universität Bern (Institute für Romanische Sprachen und Literaturen und Jaberg-Bibliothek). (Sig. HSJJ31)