Jakob Jud an Hugo Schuchardt (97-05215)

von Jakob Jud

an Hugo Schuchardt

Unbekannt

20. 11. 1921

language Deutsch

Zitiervorschlag: Jakob Jud an Hugo Schuchardt (97-05215). Unbekannt, 20. 11. 1921. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8577, abgerufen am 28. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8577.


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20.XI.21

Verehrter Meister!

Nun setzt bereits das Einwintern ein: warme Stube, aber überall sonst kalte Räume, dicke Nebelschwaden über der Stadt mit nur seltenem Sonnenblick. Dazu stilles Dahinbrüten sovieler Tausender, die bereits schon mit Sehnsucht des Frühlings Nahen herbeiwünschen. Vor diesem „Winterschlaf“ haben meine Frau und ich noch einmal einen Sprung in die Weite gewagt: wir haben so sehr schöne Tage in Belgien und die letzten drei in Paris während meiner Herbstferien verbracht. Nie ermüdende Sonne hat uns begleitet und diesen ersten Kontakt mit |2| der Kunst Flanderns zu einem wirklichen Erlebnis gestaltet. Diese „vlaamschen“ Erinnerungen werden noch lange in uns weiterschwingen.

Und nun hat wieder die Semesterarbeit eingesetzt: die Studenten sind zwar diesen Winter sehr spärlich, denn alle späteren Semester benutzen den Winter zu einem Ausflug, der eine nach Westen, der andere nach Süden, um in den fremden Sprachen sich heimisch zu machen. Dann lastet aber auf unserer Schule auch die Krisis, die unser Land gar arg heimsucht: die Mittelschulen gehen in ihrem Schülerbestand zurück, die Zahl der Klassen wird entsprechend vermindert und die jungen Doktoranden |3| haben gar geringe Aussicht auf Anstellung: denn die Zahl der zu pensionierenden Neuphilologen ist äusserst gering. Ist da es nicht fast Pflicht, unseren Mittelschülern vom Studium der roman. Philologie abzuraten?

Ich stecke inmitten rätischer Probleme, oder um besser mich auszudrücken, inmitten bündnerromanischer Wortprobleme, die auf der Grenzlinie romanisch-germanischer Wechselwirkung liegen. Ich hatte vor Jahren einen populären Vortrag über das bündnerromanische Idioticon zugesagt: nun gilt es das Versprechen einzulösen |4| und ich halte in Chur und St. Gallen am 6. und 7. Dez. den Vortrag, der zugleich gemeinverständlich wie wissenschaftlich fruchtbar sein sollte.1 Der Rohbau ist so ziemlich fertiggestellt: jetzt gilt es noch die Fassade auszuschmücken. In der einstündigen Vorlesung an der Univ. besprechen wir das drü(e) Problem,2 das wieder einmal so recht die geringen Fortschritte beleuchtet, die die Semantik innerhalb der Etymologie erzielt hat. Es scheint mir immer wahrscheinlicher, dass alle dru (auch dru „Geliebter“) zusammengehören und ans Keltische anzuschliessen sind und zwar an ein- und dieselbe Basis. Die Besprechung von Dottins Le Gaulois3 wird diese Probleme |5| und andere wieder aufrollen.

Gestern waren zwei Jahre seit dem Aufbruch von Herrn Dr Scheuermeier nach den rätischen und italienischen Landen verflossen: zwei Jahre ununterbrochener Wanderung: 102 Ortschaften wurden aufgesucht und sprachlich untersucht und etwa 550 Photos ausgeführt. Es braucht ein hartes Stück Energie, um zwei Jahre lang bei Wind und Wetter in Hochalpen und Niederung zu wandern, um tagelang dann den Gewährsleuten ihre sprachlichen Geheimnisse abzulauschen. Herr Dr Sch. ist in Belluno; wenn Sie ihm etwa gelegentlich einen freundlichen Aufmunterungsgruss (ferma in posta Belluno) |6| zuschicken würden, wäre ich Ihnen dafür sehr dankbar.4

Was macht übrigens Prof. Gartner? Ich habe gar nichts mehr von ihm gehört: ist seine Abhandlung über die rätoroman Mdarten fertiggestellt?5 Sagen Sie ihm indirekt einen herzlichen Gruss: er hat mir auf ein Separatum hin nie geantwortet. Was macht Prof Ive?6 Haben Sie den Band von Meillet von meinem Buchhändler erhalten?7

Aber nun genügt’s: wir reden oft von Ihnen und möchten gerne von Ihnen gute Nachrichten haben.

In herzlichem Gedenken
Ihr

JJud


1 Jud, „ Zur Geschichte des Bündnerromanischen “, NZZ Nr. 516, 1921.

2 Jud, „ Zur Geschichte und Herkunft von fr. dru“, Archivum Romanicum 6, 1922, 313-339.

3 Jud, " Bespr. von G. Dottin, La langue gauloise", Archivum Romanicum 6, 1922, 188-211.

4 Vgl. Scheuermeiers Ansichtskarte aus Belluno (21.11.1921) an Schuchardt, der offenbar Juds Bitte prompt erfüllte (oder bereits aus eigenem Antrieb erfüllt hatte): „Heute beehrte mich Ihre frdl. Karte. Sie freut mich um so mehr, als ich weiß, daß das, was wir Jungen jetzt durchzuführen versuchen, schon lange von Ihnen gedacht und gefordert worden ist, und weil mir bei der Sammelarbeit täglich die Bestätigung durch die Finger rinnt der Richtigkeit der großen Linien u. Lehren, die wir Ihnen verdanken“.

5 Diese Frage überrascht. Gartner hat das Kapitel Die rätoromanischen Mundarten in beiden Auflagen von Gröbers Grundriss 1888 u.1904 verfasst und 1910 in der „Sammlung kurzer Lehrbücher der romanischen Sprachen und Literaturen“ als 5. Bd. das Handbuch der rätoromanischen Sprache und Literatur vorgelegt. Von weiteren Arbeiten konnten keine Spuren gefunden werden.

6 Antonio Ive (1851-1937) war von 1893 bis 1922 Schuchardts italianistischer Kollege in Graz.

7 Vgl. Schuchardts Brief 27 (24.11.1921).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05215)