Hugo Schuchardt an Jakob Jud (96-HSJJ30)
von Hugo Schuchardt
an Jakob Jud
13. 08. 1921
Deutsch
Schlagwörter: Atlas linguistique de la France Zeitschrift für romanische Philologie Italienisch
Istriotisch
Sanskrit Seldeslachts, Herman/Swiggers, Pierre (1995) Spitzer, Leo (1918) Schuchardt, Hugo (1922) Schuchardt, Hugo (1922)
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Jakob Jud (96-HSJJ30). Graz, 13. 08. 1921. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8576, abgerufen am 24. 03. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8576.
Graz 13. Aug. 1921.
Lieber Freund!
Heute ist, nach langer sommerandalusischer Hitze endlich ein schreibbarer Tag, und so beantworte ich denn Ihren lieben, aber wider Ihre Gewohnheit etwas schwermütigen Brief.1
Ich habe ja schon längst, das heißt so bald ich bei Gelegenheit Ihres Besuches von Ihren Lehrumständen erfahren habe, mich darüber gewundert daß Sie eine so gewaltige Arbeitslast auf sich genommen |2| haben und mit Leichtigkeit zu tragen scheinen. Eine Erleichterung hätten Sie sich wohl verschaffen können wenn Sie Ihre Blicke nach dem Ausland gerichtet hätten; aber das war ja ausgeschlossen, Sie hätten sich nicht entwurzeln lassen: Sie müssen nun ernstlich daran denken sich irgendwie zu entlasten; freilich kann ich, mit den Schweizer Verhältnissen im allgemeinen unvertraut, keinen bestimmten Rat geben.
Was Sie von den Aussichten der romanischen Linguistik auf deutschem Boden sagen, klingt mir wie das Echo meiner eigenen Worte. Ich gehe darum auf diese Sache nicht weiter ein. Das Verhältnis zwischen Linguistik, Textphilologie, |3| und Literaturgeschichte konnte nicht gleich anfangs für alle Zeit festgestellt werden und es hat sich im Wechsel der geschichtlichen Umstände bald in diesem, bald in jenem Sinne verschoben. Die reine, d. h. nicht praktisch ergiebige Wissenschaft wird in deutschen Landen nicht mehr die selbe Förderung finden wie früher; nicht bloß weil die Mittel nicht ausreichen, sondern auch weil das Bedürfnis weniger lebhaft ist. Z. B. wird man Ives Lehrstuhl (er hat gerade heute seinen 70. Geburtstag und ich weiß nicht ob er das ihm zuerkannte Ehrenjahr abdienen will)2 wieder besetzen?
Meines Erachtens sollten mehr Akademikerstellen (eigentlich gibt es nur ganz vereinzelte) geschaffen werden für solche Forscher die daran behindert sind sich als mündliche Lehrer zu betätigen. |4| Es ist das ein nachträgliches pro domo. Sie wissen ja, aus früheren Briefen von mir und wohl auch jetzt von Spitzer wie es mit mir steht; und obwohl ich dabei in kein schönes Licht gesetzt werde, so ist es mir doch ganz recht, wenn an mir exemplifizirt wird. Mir hat es nicht an Kraft des Organs, an Schwung des Vortrags usw. gefehlt; aber die rasche und absolute Ermüdung, ein Hauptkennzeichen der Neurasthenie, stand mir immer und bei allem im Wege.
Sie berühren u. A. einen Punkt, den Sie schon früher einmal zur Sprache gebracht hatten; die mir von den deutschen Romanisten zu Teil gewordene Anerkennung. Darüber kann ich mich überhaupt nur äußern soweit ich – und das ist doch nur in der Literatur der Fall – davon Kenntnis |5| bekommen habe. Ein allgemeines Bild habe ich mir davon allerdings nicht gemacht; ich glaube nicht daß ich mich beklagen kann; ich bin wohl – aber Andern ergeht es ja ebenso – manchmal ignoriert, mißverstanden, angefochten worden, habe mich aber davon, wenn es mir passend erschien, lebendig gemacht. Allerdings glaub ich feststellen zu dürfen daß zwar nicht ich selbst, aber doch meine vielfach wiederholten Anschauungen, großenteils unbekannt oder doch unwillkürlich unberücksichtigt geblieben sind. Das liegt aber vorzugsweise daran daß sie sich an zu sehr zerstreuten Stellen finden (obwohl wesentlich in zwei Zeitschriften, der Gröberschen und dem Literaturblatt). Und schließlich hängt die Bewertung des wissenschaftlichen Individuums |6| so innig mit der Auffassung zusammen, die man von der ganzen Entwicklung der Wissenschaft hat. Vor einiger Zeit schickte mir Terracini seine methodologische Arbeit,3 die mir den günstigsten Eindruck macht. Wegen des überaus feinen Drucks bin ich noch nicht dazu gekommen mich hinein zu vertiefen; aber die Lesung der ersten Seiten hat mich veranlaßt den Verfasser um Aufklärung zu bitten.4 Was ist es mit dem Programm der Junggrammatiker, der neogrammatici? Die Italiener lassen sich doch stets vom Wortzauber gefangen nehmen. Wenn irgend etwas wirklich Neues dabei war, so die Ausnahmeslosigkeit der Lautgesetze. Die ist aber schrittweise, möglichst unauffällig im Verlauf der Zeiten aufgegeben worden. Brugmann fragte mich, nach seiner letzten Erklärung von den Lautgesetzen, ob ich nun zufrieden sei.5 Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts haben wir ja immer, was das Methodische anlangt, |7| Neues gehabt, das aber im Grunde besehen doch um die Betonung und Weiterbildung von schon Erkanntem war. So das Studium der ethnographischen Einflüsse, die Sachetymologie, die Sprachgeographie, das Gilliéronsche Verfahren ecca. Diese Dinge gehören alle nebeneinander, keines schließt das andere aus. Spitzer liebt es6 – ich habe es ihm öfter vorgehalten – mit seinem Klassifizieren, Etikettieren, Charakterisieren das Gegensätzliche herauszukehren; er stempelt den einen als Sprachgeographen, den andern als Sprachhistoriker …. ab; aber man ist alles zugleich oder sollte es sein. Es ist wie beim Handwerk, man hat ein halb Dutzend Werkzeuge vor sich liegen und greift bald nach dem, bald nach dem andern. Die jeweiligen Umstände wirken dabei ein. Erst nach der Veröffentlichung des Atlas linguistique konnte sich die Sprachgeographie frei und breit entfalten.7 Ich könnte an bestimmten Beispielen |8| meine Auffassung dieser Dinge ganz klar machen. Sp. hat meine Deutung des eigentümlichen bearnischen Gebrauchs von que beanstandet und sie damit begründet daß ich nicht Sprachgeograph sei.8 Allein, wenn ich auch das Vorhandensein ähnlicher Erscheinungen auf dem sonstigen romanischen Gebiete zugebe und eine stufenmäßige Steigerung in der bestimmten Richtung zugäbe, so würde doch zuletzt ein großer Sprung anzunehmen sein, der nur durch die Einwirkung baskischer Sprachgewohnheit sich begreifbar macht. Auf die allgemeinen Fragen die hierbei ins Spiel treten, lasse ich mich vielleicht noch einmal ein wenn mir Zeit und Raum verbleiben. Mit dem letzteren meine ich das für den Druck zur Verfügung gestellte Papier. Das ist nämlich mein wundester Punkt. Sie schrieben mir einst: ich möchte doch nicht an rasche Abreise denken, ich hätte ja noch viel zu sagen. Das sei bei aller Bescheidenheit zugegeben; aber wo kann ich mich mit irgendeiner längeren Arbeit anbauen? Bei der Berliner Akademie liegt eine solche (über Baskisches) seit kurzem,9 aber wohl auf sehr lange Zeit. Eine kurze (aber auch nicht romanistische) |9| ist in den Sitzungsberichten sofort nach Vorlegung gedruckt worden;10 Sonderabzüge werde ich erst später bekommen. Am meisten in Verlegenheit bin ich mit meinen etymologischen Miniaturen. Ich habe ja begonnen und denke auf diesem Wege allein fortzufahren, meine etymologischen Funde oder Einfälle mit ein paar Strichen aufzuzeichnen, von dem Wunsche beseelt, die Meinung der Fachgenossen darüber zu hören (z. B. über meine neue etwas kühne Deutung von span. –ez, –oz usw.) Ich habe nicht die Kraft mehr und auch nicht die objektive Möglichkeit diese Artikelchen stofflich auszustatten. Für die Berl. S.B., in denen ja auch Tobler zum großen Teil seine Etymologien unterbrachte, wären die meinigen zu skizzenhaft. Die Zeitschrift aber versagt; nicht infolge eines Mangels an gutem Willen bei Hilka – er schrieb mir vor zwei Monaten, er wolle meine Einsendungen raschestens erledigen; ich hatte ihm gesagt, ich wolle mich „vom Geschäfte zurückziehen“, er möge doch das zum Teil vom vorigen Jahr her noch Erliegende ans Licht bringen.11 Alles in Allem sind es ja nur ein paar Seiten. Seitdem habe ich nicht wieder von dorther vernommen,* [* Stockt nicht etwa die ganze Sache? oder soll wieder ein Doppelheft herauskommen?] nicht einmal die Korrektur meiner Druckfehlerberichtigung – das beunruhigt mich am meisten – erhalten. Ich pflege geduldig Queue zu stehen; aber wenn man |10| zu festschriftlichem Zwecke – gegen den an sich ich nichts einzuwenden habe – von einer Schwadron überritten wird, so darf man doch hinterher auf eine kleine Begründung hoffen.12 Schon längst habe ich es als ein Bedürfnis betrachtet daß ein Organ bestünde wie etwa der Anzeigenteil einer Tageszeitung welcher vorläufige Mitteilungen oder ganz kurze oder Anfragen u. dgl. brächte (s. Notes and Queries)13 – ein Naturwissenschafter, wenn er etwas entdeckt hat oder entdeckt zu haben glaubt, kann das sofort der Mitwelt verkünden …
Ansonsten noch folgendes:
– Frau Cornu scheint noch in der Schweiz zu weilen
– Wie steht es mit den Scavi?14
– Ich schicke den Brief nicht nach Guggisberg, weil ich nicht weiß ob Sie noch dort sind und um Ihren Söhnen (an die ich von Eintreffen Ihres Briefes geschrieben hatte) zu zeigen daß ich die neue Zirkuskronenmarke nicht vergessen habe
– Last not least! Meinen ehrerbietigen Gruß an Ihre Frau Gemahlin!
Herzlichst
Ihr
Schuchardt
2 Antonio Ive (1851-1937), österr. Romanist, Schüler Mussafias, von 1893-1922 Professor in Graz. Sollte er bei seiner Ausrichtung (Italienisch, istrischer Dialekt) wirklich einen Lehrstuhl besetzt haben? Von einer unmittelbaren Nachfolge ist nichts bekannt; allerdings wurde 1925/26 der italianistisch bestens ausgewiesene Friedrich Schürr (1888-1980) Grazer Extraordinarius. Spitzer (HSA 328-11089) spricht sich früh für ihn als Ive-Nachfolger aus.
3 Benvenuto Aronna Terracini (1886-1968), ital. Klass. Philologe; vgl. HSA 11595-11599. Hier geht es wohl um seinen Aufsatz „ Questioni di metodo nella linguistica “, Atene e Roma n. s. 2, 1921, 31-47 u. 99-118; in Terracinis Brief 2-11596 an Schuchardt (bearb. von Luca Melchior) heißt es: „Was Sie mir über die Junggrammatiker schreiben trifft gerade einen von den schwächsten Punkten von meinem Aufsatz: da ich hauptsächlich mit der üblichen Praxis der Sprachwissenschaftlichen [sic] Untersuchung mich bescheftigen [sic] musste, habe ich vielleicht nicht genug betont dass diese Praxis auf einer veralteten und vollkommen überwundenen Lehre beruht“.
4 Am linken Rand: „14. Aug.“; die Abfassung des Briefs erstreckte sich demnach über mehrere Tage.
5 Karl Friedrich Brugmann (1849-1919), deutscher Sanskritist und Sprachwissenschaftler; vgl. HSA 01411-01416; vgl. weiterhin die Erläuterungen von Pierre Swiggers, der die Briefe Brugmanns im HSA herausgegeben hat („Bedeutung“).
6 Am linken Rand: „15. Aug.“
7 Der insbesondere von Jules Gilliéron (und Edmond Edmont) initiierte und vorangetriebene Atlas linguistique de la France (ALF) erschien in den Jahren 1902-1910.
8 Leo Spitzer, Aufsätze zur romanischen Syntax und Stilistik, Halle S.: Niemeyer, 1918 („Über span. que), 71-120; hier ausführlich S. 119-120.
9 Schuchardt, „Zur Kenntnis des Baskischen von Sara (Labourd)“, Abhandl. d. Berl. Ak. d. W. 1922, 1-39.
10 Schuchardt, „Die iberische Inschrift von Alcoy“, SB. d. Berl. Ak. d. W. 1922, 83-86.
11 Alfons Hilka (1877-1939), deutscher Romanist, seit 1919 als Nachfolger Ernst Hoepffners Hrsg. der Zeitschrift für romanische Philologie.
12 Diese Klage ist nicht ganz verständlich. Zwar ist die ZrP 41, 1921 Wilhelm Meyer-Lübke gewidmet, der am 30. Januar 60 Jahre alt wurde und dessen Porträtfoto sich nebst Gratulationsadresse („WILHELM MEYER-LÜBKE zu seinem sechzigsten Geburtstag am 30. Januar 1921 ein Freundesgruß in schwerer Zeit“) zwischen Inhaltsverzeichnis und Artikelbeginn findet, was aber keineswegs die Vielzahl und Vielgestaltigkeit der einzelnen Beiräge beeinträchtigt. Schuchardt ist übrigens mit insgesamt 19, zugebenermaßen sehr kurzen Artikeln vertreten.
13 Notes and Queries ist eine seit 1849 erscheinende britische Literaturzeitschrift, die Kurzartikel zu allen die Literatur betreffenden Themen (Sprache, Literatur, Lexikografie, Geschichte, wissenschaftliches Antiquariat usw.) veröffentlicht.
14 Sollte Gerhard Rohlfs, Griechen und Romanen in Unteritalien; ein Beitrag zur Geschichte der unteritalienischen Gräzität , Genf: Olschki, 1924 (Archivum Romanicum / Biblioteca, 2,7) gemeint sein, das in erweiterter Form 1933 als Scavi linguistici nella Magna Grecia, Rom Collezione Meridionale Editrice [u.a.], 1933 erschienen ist?
Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Jaberg-Archiv, Universität Bern (Institute für Romanische Sprachen und Literaturen und Jaberg-Bibliothek). (Sig. HSJJ30)