Jakob Jud an Hugo Schuchardt (92-05212)

von Jakob Jud

an Hugo Schuchardt

Unbekannt

15. 03. 1921

language Deutsch

Schlagwörter: Zeitschrift für romanische Philologie Journal de Génève Hugo-Schuchardt-Brevier Heinimann, Siegfried (Hrsg.) (1992)

Zitiervorschlag: Jakob Jud an Hugo Schuchardt (92-05212). Unbekannt, 15. 03. 1921. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8572, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8572.


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15.III.21

Verehrter Meister!

Das Bild von unserem Nationalhelden Winkelried,1 der in der Schlacht bei Sempach eine Gasse für seine Kampfbrüder sich bahnte, will ich nicht allzuweit ausführen: aber sicher ist, dass er den Opfertod suchte, nicht um die anderen zu tyrannisieren, sondern um ihnen zu helfen. Wenn ich nun versuche, all den dräuenden Nöten, die auf sie einstürzen, etwas zu steuern, so fühle ich mich in der „lignée“ derer, die versuchen, durch all die Wirrnisse des Lebens einen Weg denen |2| zu bahnen, die ich liebe. Dass ich nicht falsch interpretiert werde, das darf ich von denen erhoffen, die mich am Werke gesehen haben.

Meine liebe Frau und ich danken Ihnen warm für die beiden Photographien, die uns ein teures Andenken sind: die Widmungsworte haben uns besonders gefreut. Wir beide sind uns der Pflichten wohl bewusst, die eine so aussergewöhnlich privilegierte Stellung wie die des Schweizers uns auferlegt. Wenn wir nun aber die von Hass und Liebe getragenen Stimmungen unserer nördlichen und westlichen Nachbarn nicht einfach mitmachen, sondern |3| die Lage eines jeden Volkes zu verstehen suchen und auch verstehen wollen, so bleiben wir auch da unserer Aufgabe treu. Als ich letzten Herbst durch die Schlachtfelder Frankreichs, durch die Ruinen von Verdun und Reims und die Dörfer bis an den Chemin des Dames pilgerte, da habe ich zum ersten Mal so recht empfunden, welche Hasswelle dieser Krieg entfesselt hat. Erinnern Sie sich, wie jahr für jahr in den deutschen Schulen der Brand- und Plünderungszug der Franzosen in die Pfalz (vom 17. Jahrh.) gebrandmarkt wurde? Von diesen Verwüstungen ist, wenn ich mich nicht irre, das Heidelberger Schloss der letzte Zeuge: was bedeutet dieses Heidelberger Schloss neben der |4| Zerstörung von Städten mit mehr als 50000 und 100000 Bewohnern wie Reims, Saint-Quentin, Arras, Amiens, Lens und Armentières? Was für mich eben unerfasslich ist und bleibt, das ist der mangelnde Wille zur Hülfe, das ist die unfruchbare Klage über eigenes Unglück, während, im Falle des Sieges, der deutsche Staat (ich sage nicht das deutsche Volk) seine Besiegten mit einer Unerbittlichkeit behandlet hätte, die zum mindesten die der Unterzeichner des Vertrages von Versailles aufgewogen hätte. Ich besitze in meiner Bibliothek den Text der Eingaben, die die verschiedenen Parteien und Verbände über die Kriegsziele |5| der deutschen Regierung eingereicht haben,2 eine wahre Orgie von entwürdigenden Bedingungen, die das Leben in Europa völlig verwüstet hätten. Wenn in Deutschland auch nur ein grosser Menscheitsgedanke während des Krieges auferstanden wäre! Statt dessen im Frühjahr 1918 noch einmal der Versuch, in Nordfrankreich Westeuropa unter den Willen des Siegers zu beugen! Und erst in extremis beruft sich der deutsche Reichskanzler auf das Programm Wilson! Sie sehen: mit Deutschlands Politik kann ich nicht sympathisieren, so sehr ich mich auch Rechenschaft von seiner Mentalität abzugeben3 versuche; |6| Ludendorffs „Erinnerungen“ sind für mich ungeniessbar!4 Bazaine wurde 1871 vors Kriegsgericht gestellt,5 Ludendorff, dem eine beispiellose Katastrophe zur Last fällt, ist der Chef einer Partei, die sich selbstsicher und selbstgerecht gebärdet als ob nicht sie, sondern andere das Land in diese traurige Lage gebracht hätten.

Andererseits ist der Versaillervertrag mit der Verkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Deutschen in Südtirol und Böhmen wie in Eupen, mit den von Hass diktierten Bedinungen finanzieller und wirtschaftlicher Natur ein unberechenbarer Irrtum, der |7| der Konsolidierung Europas die schwersten Hindernisse bereitet. Die Tragik liegt ja aber noch ausserdem im vollständigen politischen Versagen Amerikas im entscheidenden Momente; was America philanthropisch in Europa und nicht zum wenigsten in Deutschland und Oesterreich geleistet hat, ist bewunderungswürdig.

So kommt es mir denn vor, dass, wenn ich mit einem Franzosen diskutiere, ich den Deutschen helfe, mit einem Deutschen den Franzosen, mit einem Italiener den Südtirolern: Sie werden das |8| mangelnden festen nationalen Boden nennen! Ich sehe gerade in dieser Stimmung und in dieser Einstellung den Standpunkt des au-dessus de la mêlée.6 Letzten Sommer bin ich mit meinem teuren Meister Gilliéron in einen äusserst heftigen Disput während zweier Stunden gelangt, weil ich die Anschauung vertrat, dass Elsass-Lothringen durch eine Volksabstimmung die Annexion von 1870-71 hätte widerrufen sollen. Ich fürchte, dass in diesem Frühling Meinungsverschiedenheiten mit ital. Fachgenossen mir nicht erspart bleiben (Frage: Südtirol). |9| So jetzt haben wir aber, verehrter Meister, genug Politica behandelt.

Ich freue mich also zunächst des Breviers, womit einer meiner herzlichsten Wünsche endlich in Erfüllung geht:7 nämlich Ihren Gedanken und Anschauungen die starke Durchschlagskraft zu gewähren, die sie verdienen. Eine solche Ehre ist eigentlich noch keinem Sprachforscher zuteil geworden: könnte man sich ein schöneres Denkmal vorstellen als eine solche Auslese aus der Arbeit Ihres Lebens? Der Aufruf zur Deckung des Zuschusses der Druckkosten ist bereits unterwegs [unterzeichnet von |10| den H. H. Bally, Wackernagel, Niedermann, Schwyzer, Bachmann, Brandstetter, Jeanjaquet, Bertoni, Tappolet, v Planta, Pult, Gauchat und Jud];8 Sie sehen, verehrter Meister, die Solidarität der schweizerischen Linguistengarde ist vollkommen. Dieselbe Solidarität hat sich neulich bei einer Spende für Kluge bewährt9 und erweist sich auch als tragfähig für eine Spende des Thesaurus linguae latinae.

Letzten Herbst besuchte ich in Strassburg E. Horning,10 der sehr gealtert ist: ein tragisches Schicksal diese |11| elsässische Forschernatur, den ein Gröber auch nie zur Dozententätigkeit herangezogen hätte. Wo steht in weiter Runde ein Gymnasiallehrer, der auf solche Leistungen auf linguistischem Gebiete zurückblicken könnte?

Wir gedenken in der Tat auf den künftigen Karten Zeichnungen der Gerättypen einzutragen. Prof. Jaberg hat bereits einige solche angefertigt. Ich war letztlich ganz leidenschaftlich versunken in das Problem von tutare „löschen“: warum diese Bildung? Ich hoffe nächsten Winter diesen Artikel redigieren zu können,11|12| der so eine Art scier-Artikel12 werden muss.

Es freut mich, dass das Bulletin Ihnen zugekommen ist: die Société de linguist. hat es auf ihre eigene Rechnung genommen.

Betreffend tos habe ich H. Prof Bachmann13 gebeten, Ihnen eingehend Auskunft zu geben. Ferner habe ich H. Frehner ersucht, Ihnen seine Arbeit über Älplersprache14 zuzusenden, in denen [sic] Formen von Tanse Tause erscheinen. Endlich beiligend einige Formen aus meinem Material.

Und nun, verehrter Meister, nüt für unguet!
Stets Ihnen herzlich zugetan
J. Jud.15


1 Dazu merkt Heinimann, S. 33 Anm. 89 an: „Winkelried: Die materielle Not, in die Sch. infolge der Inflation in den ersten Nachkriegsjahren gerten war, sucht Jud auf verschiedene Art zu lindern. Unter anderem veranlaßt er, dass Niemeyer dem Grazer Meister die Zeitschrift für romanische Philologie kostenlos zusende (Postkarte Juds vom 7. Febr. 1921). So viel Unterstützung glaubt Sch. nicht annehmen zu können. In verschiedenen Briefen protestiert er, meist in scherzhaftem Ton, gegen all die ,Wohltaten‘, ‚Sie (…) trampeln auf meinem Selbstbestimmungsrecht herum‘, heißt es am 10. Febr. 1921. Der Brief vom 24. Febr. beginnt mit den Worten: ,Wo ist die Freiheit, der Arnold von Winkelried eine Gasse machte? Versklavung selbst auf dem Gebiet der Wissenschaft!‘“

2 Vermutlich handelt es sich um Alfred Lanick, Klarheit über die Kriegsziele mit einem Anhang: Zusammenstellung wichtiger Kriegszieläußerungen und Denkschriften , Heidelberg: Politische Verlagsanstalt, 1917.

3 Stelle unleserlich, da überschrieben. Der Satzbau stimmt nicht!

4 Erich von Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen 1914-1918 , Berlin: Mittler, 1921.

5 Vgl. Brief 05193.

6 Titel eines ursprünglich am 15. September 1914 im Journal de Genève erschienen Artikels von Romain Rolland, der den Krieg als eine Jahrhundertkatastrophe geißelt und zu Frieden und Versöhnung aufruft.

7 Vgl. 05165 (23.3.1914).

8 Diese Liste ist nicht vollständig; eine solche Liste findet sich (unpaginiert) zu Beginn des Hugo Schuchardt-Brevier. Sie umfasst insgesamt 43 Einzelpersonen und 6 Einrichtungen.

9 Vgl. Brief 23 (17.12.1920).

10 Vermutlich ist Adolf Horning gemeint; vgl. Brief 05183.

11 Jud, „ Problème de géographie linguistique: II. ,Éteindre dans les langues romane s“, RLiR1, 1925, 114-118.

12 „scier“ im popul. Sinn von „umhauen, umwerfen“?

13 Albert Bachmann (1863-1934), schweiz. Dialektologe; vgl. HSA 00396-00398.

14 Otto Frehner, Die schweizerdeutsche Älplersprache; alpwirtschaftliche Terminologie der deutschen Schweiz; die Molkerei , Frauenfeld 1919 (Zürich, Phil. I. Sekt., Diss.).

15 Heinimann, 1992, Nr. 22, 33-34 (stark gekürzt).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05212)