Hugo Schuchardt an Jakob Jud (91-HSJJ28)

von Hugo Schuchardt

an Jakob Jud

Graz

24. 02. 1921

language Deutsch

Schlagwörter: Hugo-Schuchardt-Brevier

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Jakob Jud (91-HSJJ28). Graz, 24. 02. 1921. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8571, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8571.


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G. 24.2.‘21

Lieber Freund,

Wo ist die Freiheit, der Arnold von Winkelried eine Gasse machte?1 Versklavung selbst auf dem Gebiete der Wissenschaft! Ich wollte heraus aus meinem Käfig, um

auf zitatenlosen Schwingen
in den Äther vorzudringen

Ich hatte das Ideal einer Tabula rasa vor mir und träumte von einem Feuilleton: Das erste Lautgesetz. Aber im Ernst zu sprechen, Sie sind sich der Tragweite Ihrer großherzigen |2| Tat gar nicht bewußt. Ich bin ja nur verpflichtet meine müden Augen mit dem Studium von neuen Worten und Zeichen zu quälen, wozu nicht einmal die Lupe immer ausreicht (schon 1877 sprach mir Mussafia von dem „Augenpulver“ der Zeitschrift); ich falle immer wieder in etymologische Fallstricke, gerate rechts und links auf Abwege, wo ich doch so gerne schnurgerade vorwärts ginge; ich werde auf Meilenweite der einzige Besitzer der Z. sein und müßte ein Lesekabinett für Romanisten |3| einrichten usw. usw. Doch ich rede als ob ein fait accompli vorläge; das ist nicht der Fall, ich habe an Niemeyer geschrieben: Ich kanns nicht annehmen. Daß er meinen Brief erhalten hat, das wird mir durch seine Zusendung von 20 Mark als Honorar bewiesen – ein rührender Zug von Atavismus! Wohltun steckt an. Also es ist noch nichts entschieden: Νιεμεύερου ἐν γούνασι κεῖται.2

Zugleich mit Ihrer Karte traf ein Brief von LSpitzer ein der mir ein schon von Ihnen |4| angedeutetes Komplott ganz enthüllt.3 Ein Treffer ins Herz! Ich kann mich jetzt nicht darüber äußern; ich werde das demnächst gegen Spitzer tun. Wenn nur nicht wieder eine Finanzierung dabei wäre!

Die „Legende“ zur Sichelkarte hat mir allerdings den Wunsch nach Aufklärung erregt4 – so viel ich mich entsinne. In diesem Augenblick kann ich die Karte nicht vornehmen. Der Sachverhalt im Großen ist einfach. Die gezähnte Sichel war einst überall verbreitet (ich fand sie |5| am rechten Ufer des westlichen Horns vom Gardasee, bei einem Spaziergang von Pallanza aus). Daß sie überall im Rückgang ist, muß einen allgemeinen, für einen Fachmann wohl leicht erkennbaren Grund gehabt haben.

Welche von meinen Photographien wünschen Sie (die Jahreszahl orientiert mich nicht)? Das mit oder ohne Zwicker? Die welche ein „gütig-ironisches Lächeln“ zeigt keinen „in die Weite forschenden Blick“.

Vorgestern habe ich eine Einbuße von 23000 Kronen gehabt. Aber ich lache darüber; |6| bitte lachen Sie mit. Ich habe von meinem Großvater Bridel her (ein Geschenk an ihn vom Herzog August5) einen von mir und allen die ihn sahen, als solchen angesehenen Platinring.6 Vorgestern brachte ihn mein Majordomus zu einem mir zu diesem Zweck empfohlenen Juwelier. Der wog ihn, berechnete seinen Wert und legte eine Zehntausendnote auf den Tisch und dazu dreizehn Tausender (23 Gramm zu 1000 K.), dann sagte er: ich möchte ihn erst prüfen. Das schwere Ding fiel im Examen durch; es war kein Platin7 dabei (wohl Feinsilber) Mein Frack hat auch noch keinen Liebhaber gefunden, womit ich bin

Ihr herzlich ergebener

H.Schuchardt

|7|kein PS, sondern ein AS!

Verehrte Frau,

Werden Sie es mir – eine Wienerin täte es nicht – verzeihen daß ich meinen Dank für Ihr mokkaduftendes Briefchen auf einen Halbbogen abstatte. Ich brauchte ja nicht zu sparen, wenn es bisher nur weibliche Portoricos gab, so gibt es nun auch einen Porto Rico. Sie sprechen von Ihren beiden Buben; das sind doch nun gewiß zwei Herren. Allerdings kenne ich sie nur aus einer Photographie, wo sie ein Kostüm haben das keinerlei Alterskennzeichen, wie Kravatte, Busennadel, Kragen usw. aufweist. Briefmarkenliebe geht von der Wiege bis zum Grabe; beider kann ich unser ganzes Museum nicht auf einen Umschlag |8| bringen. Ich hätte so gern etwas in den Brief getan, damit er sie nicht bloß von außen erfreut. Nun auf gut Glück, und um das Papier auszunutzen eine Schüleranekdote, die ich in meiner Schulzeit hörte und die mir jetzt, in folge einer besondern Assotiation, wieder einfiel. In Appeln oder einer anderen preußischen Stadt, war ein Gymnasialdirektor Namens Vogel, ein gefürchteter Despot den Schülern gegenüber, nach oben kriechend. Ein Schüler, der bei der Matura sicher war durchzufallen, rächte sich indem er die bekannten Worte des Horaz übersetzte

Mae-cena; at - avis

Mif fjrif di abar das Nogal

Edit – e regibus

Ißt von den Königen.

Ich sagte mir: Auch du ißt ja von Königen! Ich bin zwar kein Fürschten kneacht mehr, aber doch noch ein Fürsten knecht, ein tief verschuldeter, als welcher ich mich zeichne.

Ihr dankbarer und
ergebener HSchuchardt


1 Gedicht von Georg Herwegh, 1841 (Titel des Gedichts und Refrain der einzelnen Strophen).

2 Deutsch etwa „[Die ]Entscheidung ruht im Schoß Niemeyers (=bei Niemeyer)“.

3 Vgl. Brief 24 (es geht um HSA 282-11042, S. 188-189).

4 Im ALF, Fasc. 4, Corse, 1915, gibt es z. B. Karte N° 643 „La faucille dentelée; La faucille non dentelée“.

5 August, Herzog von Sachsen-Gotha-Altenburg (1772-1822), vorletzter Landesfürst des thüringischen Herzogtums Sachsen-Gotha-Altenburg.

6 Vgl. Brief 25 (10.2.1921). Vermutlich wollte Schuchardt einige Preziosen veräußern, um das geplante Brevier zu bezuschussen.

7 Im Text „Platina“.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Jaberg-Archiv, Universität Bern (Institute für Romanische Sprachen und Literaturen und Jaberg-Bibliothek). (Sig. HSJJ28)