Hugo Schuchardt an Jakob Jud (84-HSJJ26)
von Hugo Schuchardt
an Jakob Jud
Unbekannt
1921
Deutsch
Schlagwörter: Accademia dei Lincei (Rom) Wörter und Sachen Zeitschrift für romanische Philologie Bulletin de la Société de Linguistique de Paris Wissen und Leben: neue Schweizer Rundschau Schuchardt, Hugo (1920)
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Jakob Jud (84-HSJJ26). Unbekannt, 1921. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8564, abgerufen am 18. 07. 2025. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8564.
[Anfang 1921]1
Lieber Freund!
Gestern hab ich es bekommen, das Doppelheft! Ich wollte es stante pede an Niemeyer zurücksenden; aber das wäre mir zu kostspielig geworden. Was soll ich nun sagen? Ich muß zu den osteuropäischen Sprachen greifen, ich werde Sie von nun an mit: „mein Wohltäter“, благодетель anreden.
Die Sichelkarte habe ich mir neuerdings angesehen, nicht mit Luchsaugen, obwohl Linceo,2 sondern mit der Loupe. Die Verbreitung des germanischen Wortes neben dem lateinischen ist sehr merkwürdig. Die Bemerkungen könnten vielleicht durch W. und S.3 gekennzeichnet sein, je nachdem sie sich auf das Wort oder die Sache beziehen, nur der Übersicht halber. Denn Mißverständnisse sind kaum zu erwarten, auch nicht z. B. bei nicht mehr „gebräuchlich“. Bei der Sache|2| kommt es teils auf die Gestalt und die Größe an, teils auf den Gebrauch. Die Angaben würden sich nur auf Abweichungen vom Normalen beziehen.
Wollen Sie mir einen Gefallen tun? Den tausend und ersten. Ich gerate ohne es zu wollen immer wieder ins Etymologisieren. Ich schreibe eben einiges für Hilka4 nieder Da fehlt mir nun Kenntnis Schweizer-Deutscher Wörter. Ich war gestern seit lange einmal wieder in unserer Univ.-Bibl. Da habe ich vergeblich nach T I Schweizer Idiotikon gesucht, das heißt ich wollte es, aber der Titelkopie zufolge ist der betreffende Band noch nicht erschienen. Vielleicht wissen Sie aber aus freier Hand Weiteres über tanse5; dann machen Sie ein PS zu dem beiligenden Zettel6 und schicken es mit nächster Post an Hilka.
Das Meilletsche Bulletin7 habe ich erhalten; es ist unbegreiflich wie er so viele und vielsprachige |3| Bücher – nicht lesen – aber einen Honigtrophen aus ihnen entnehmen kann.
Von Barcelona ist mir seit dem Frühjahr (oder Sommer) nicht zugekommen; Griera schrieb mir damals, da ich ihm ein paar Zeilen über Andorra schickte, es würde erst im Herbst etwas von der Zeitschrift erscheinen.8
Für die Wissenschaft, besonders für die unseres Faches sind die Aussichten möglichst schlecht. Jetzt gibt es noch Romanisten; aber der Nachwuchs wird fehlen. Man wird das Studium des Atlas ling. usw. als „brotlose Kunst“ ablehnen. Im Jahre 1919 betrug der Anteil der technischen Wissenschaften an der gesamten deutschen Büchererzeugung – ich bin ganz verwirrt; zu lesen ist: erst ein Zwölftel, 1920 schon ein Neuntel. Sie sollten sich einmal unsere U. B. jetzt ansehen. Das allgemeine Lesezimmer gestopft voll wie nie – die Studenten wollen sich wärmen! Im Zeitschriftenzimmer |4| liegen die Zeitschriften hoch geschichtet in den Gestellen, ja und doch sind ausnahmslos alle Zeitschriften abbestellt worden – aber es ist kein Geld vorhanden um die letzten Jahrgänge binden zu lassen! Doch was ist das im Vergleich zu dem furchtbaren Geschick das meinem Volke bereitet wird! Was sagt denn Freund Bovet,9 der zugleich Entente- und Völkerbundsfreund ist, zu alledem? Dem Ernst der Weltlage kann der Ernst der Wissenschaft nicht Stand halten; tadeln Sie mich also nicht, wenn ich zuweilen schlechte Witze mache. Mein bischen Humor ist das Einzige was mich rettet. Die Entente macht ja auch solche; sie sagt die Deutschen seien nicht homines bonae voluntatis, sie seien nicht gutwillig, weil sie nicht gutwillig (d. i. freiwllig) in die Sklaverei gehen wollen.
Herzlichst Ihr und der
Ihrigen getreuer
HSchuchardt
1 Auf der ersten Seite findet sich ein Bleistifthinweis (vermutlich von Michaela Wolf): „Ohne Datum, vermutlich Anfang 1921 (Jan-März ?) (oder Ende 1921 [wohl gem. 1920!])“. Mehrere Details dieses Briefs sprechen eher für Ende 1920 als für Anfang 1921, so wenn es heißt, er, Schuchardt, habe „seit dem Frühjahr (oder Sommer)“ nichts aus Barcelona erhalten.
2 Wortspiel mit dem Namen der Academia dei Lincei, deren Mitglied Schuchardt seit 1902 war.
4 Alfons Hilka, seit 1920 Hrsg. der Zeitschrift für romanische Philologie.
5 Schweizerisches Idiotikon 13, 1973, 722: „Rückentraggefäss (für flüssige Stoffe) mit ovalem Querschnitt, aus hölzernen Dauben, mit Reifen gebunden, oder aus Blech, versehen mit Tragriemen, zT. mit einem Deckel“.
6 Nicht erhalten.
7 Bulletin de la Société de Linguistique de Paris.
8 Schuchardt, „ Andorra“, Butlletí de dialectologia catalana 8, 1920, 77 (die Zeitschrift erschien mit erheblicher Verzögerung!).
9 Ernest Bovet (1870-1941), Hrsg der Zeitschrift Wissen und Leben (1908-1923). Vgl. z. B. seinen Brief vom 18.5.1920 an Schuchardt (HSA 01299): „Eine gewisse Entspannung scheint ja zu beginnen. Statt das Gehässige immer dick zu unterstreichen, wollen wir die Keime einer höheren Weltauffassung langsam pflegen und entwickeln. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass Sie diese Morgenröte noch erleben werden und sende Ihnen den Ausdruck meiner dankbaren Ergebenheit“.
Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Jaberg-Archiv, Universität Bern (Institute für Romanische Sprachen und Literaturen und Jaberg-Bibliothek). (Sig. HSJJ26)