Jakob Jud an Hugo Schuchardt (83-05207)

von Jakob Jud

an Hugo Schuchardt

Unbekannt

22. 12. 1920

language Deutsch

Schlagwörter: Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz (AIS) Diezstiftung Völkerbund Scheuermeier, Paul (1920) Schuchardt, Hugo (1923) Heinimann, Siegfried (Hrsg.) (1992)

Zitiervorschlag: Jakob Jud an Hugo Schuchardt (83-05207). Unbekannt, 22. 12. 1920. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8563, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8563.


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22.XII.20

Verehrter Meister!

Meinen Brief hätten eigentlich zwei Probekarten begleiten sollen und damit diese Probekarte möglich werde, wartete ich auf die Zustellung der Materialien unseres unermüdlichen Explorators: DrPaul Scheuermeier.1 Ich hätte gerne Ihnen wenigstens zwei solcher Kartenbilder zugestellt: jetzt muss ich Sie noch um drei Wochen Frist bitten, wofern die begehrten Hefte nicht diese Woche noch eintreffen. Und da ich gleich von unserem Pflegekinde, dem ital. Sprachatlas spreche, so dürfte es gut sein, Ihnen einiges über den Fortgang zu berichten. |2| Bünden war Ende April 1920 erledigt: 22 Punkte im rätischen und italienischen Teil, nun hat Herr Dr Scheuermeier seit Anfang Juni aufgenommen: Canzo in der oberen Brianza, Prestone im San Giacomotal nördlich von Chiavenna, Mello, Curcio, Albosaggia, Isolaccia im Veltlin, Introbio am rechten Ufer des Comersees, Gronco, Branzi, Stabbiello, Martinengo, Monasterolo (bei Lovere) des Bergamasco, Borno, Sanico (Val Camonica), Lumezzane, Dello bei Brescia, Toscolano am Gardasee, Bagolino, Cairiano (bei Solferino), Bozzolo im Mantuanischen, Pescarola bei Cremona, Castiglione südlich von Milano. Für dieses Gebiet möchte ich Ihnen gerne die Karte Sense & Sichel zusenden. Allein, um den Verlust der Materialien zu vermeiden, haben wir mit dem Explorator ein besonderes Abkommen |3| getroffen, das ich in seinen Einzelheiten nicht erklären kann, das aber nun gerade mich verhindert, Ihnen die Karten schon heute zur Verfügung zu stellen. Aber, sobald sie da sind, ist es mein herzlicher Wunsch, Ihnen solche Musterkarten zuzustellen!2 Leider kann ich Ihnen noch keine Sachkarte beilegen: Pflugphotographien sind genügend da, aber wie sie auf Karten reproduzieren ist das Problem. Ich habe vor einigen Wochen für 41 Punkte je eine Karte für Schwiegervater-Mutter, Grossvater, Kröte, Emd3 hergestellt: es giebt interessante Probleme und neues Licht: es scheint mir als ob langsam der Vorhang aufgezogen würde, hinter dem die heutigen Mundartgebiete doch recht im Halbdunkel lagen. Ich hätte Ihnen ja zwei von den vier Karten zusenden können, allein diese waren für einen Geber oder Protektor des Atlas bestimmt, der sie als Entgelt für einen 1000 frs Chèque gleich behielt. In Herrn |4| Dr Scheuermeier, dessen Arbeit4 ich Ihnen in seinem+ [+ Dr P. Scheuermeier, Como, (Stabilimento Brunner)] Auftrage nächstens zustellen möchte, haben wir einen ganz tüchtigen Explorator gewonnen: Liebe zur Sache, Ausdauer bei allem Widerwärtigen, Geschick in der Auswahl seiner Gewährsleute, wirklich einen Jungen haben wir gewonnen, den man lieben muss. Seit 5/4 Jahren ist er nun fast ununterbrochen unterwegs und übernimmt alle Entbehrungen mit einer Begeisterung für das Unternehmen, dessen Gelingen ihm anvertraut ist.

Aber ich habe nun immer wieder von meinem (oder besser gesagt: unserem) Pflegekinde5 gesprochen, dem die ganze Liebe Jabergs und auch die meinige gilt: die des kinderlosen Jaberg ist noch fast leidenschaftlicher als die meinige, die wenigstens ebenfalls meinen beiden Jungen zugute kommt. – Als vor wenigen Tagen ich mit Dr Hubschmied mich unterhielt (der an Ihrem Weben6 und Leiden stets den allerherzlichsten Anteil nimmt), da stellten wir wieder einmal |5| die grosse Schuld fest, in der wir bei Ihnen stehen. Und wir fragten uns, wie es sich denn erkläre, dass Sie Ihre grossen Diskussionen über methodische Fragen in der Sprachforschung meistens mit Romanen ausfochten. Überhaupt wie viel stärkere Bewunderung hat Ihre Forschung bei Nichtdeutschen ausgelöst! Womit hängt also diese Tatsache zusammen? Wenn ich mir vergegenwärtige, welche Romanisten im Deutschen Reich zu Ihrer Forschung Stellung genommen haben, so gelangt man geradezu zu einem beschämenden Ergebnis: hie und da eine Verbeugung von Foerster,7 sonst nichts: denn Tobler‘s Wege haben sich doch kaum je mit den Ihrigen gekreuzt.8 Schüler in dem Sinne, wie Sie den Ausdruck gefasst wissen wollen, haben Sie unter den Romanisten nur in Oesterreich und der Schweiz gewonnen: ist das wirklich Zufall?

Für Prof Kluge haben schweizerische Roma- |6| nisten und Germanisten einen Betrag von rund 1200 frs zusammengesteuert und sie ihm in Form eines Chèque als Beitrag zum Gehalt seiner Gehülfin letzte Tage übermittelt.9 Sie sehen daraus: die Solidarität ist doch nicht ein blosses Wort selbst unter den „Wissenschaftlern“. Kluge hat allerdings in seinem Dankschreiben sich darüber beklagt, wie wenig Sympathie ihm von Seiten seiner deutschen Fachgenossen zu Teil werde: die Amerikaner (ja diese „praktischen“ Yankees) sind ebenfalls für ihn eingetreten. Nicht wahr, verehrter Meister, wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, so schreiben Sie mir das ganz gerade hinaus: ich fühle mich Ihnen zu solch dauerndem Danke verpflichtet, dass es mir Gewissensbisse bereiten würde, wenn ich Wünsche, soweit sie in meiner Kraft liegen, nicht erfüllen könnte.

Nur zwischenhinein eine baskische Frage: |7| wenn ich recht sehe, hat nur (ein Teil) der pryrenäischen Halbinsel: murciego10 als Name der Fledermaus. Giebt es einen baskischen Ausdruck, der als Vorbild des spanischen angesprochen werden könnte?

Sie haben, verehrter Meister, durchaus Recht: die Fülle des Materials kann leicht die Schaffensfreude ersticken. Ich gedenke, meine bedeutenden Materialien lexicologischer Art der Forschung eines Tages in irgend einer Form zur Verfügung zu stellen: ich finde es egoistisch, den Zugang zu solchen Materialien nicht dem Forschenden weit aufzusperren. Könnten Sie mir einen Rat geben, wie das am besten zu machen wäre?

Wenn Sie die Einleitung ins Baskische11 drucken lassen wollen, so würde ich sofort einen Prospektus mit anderen unterzeichnen, um durch Subskription den Druck des Werkes zu sichern. Ich bin sicher, wir brächten eine bestimmte Zahl von Subskribenten |8| zusammen! Also nur vorwärts an die Fertigstellung des Manuskriptes! Was aus Ihrer Hand kommt, darf nicht verloren werden!

Spitzer ist ein lieber Mensch, aber er hat eine zu nervöse Hast im Arbeiten. Stets von einer bewundernswerten Neueinstellung auf alle neuen Probleme; er ist der Impressionist, aber doch gar nicht zu missen! wer würde es ihm gleichmachen, in diesem Wagemut Arbeiten zu besprechen, Stellung zu nehmen und sich stets neuen Problemen zuzuwenden? Gewiss nicht wir schwerflüssigen Schweizergelehrten!

Und nun noch ein Wunsch: wir möchten in unserem romanischen Seminar eine kleine Galerie berühmter Forscher aufstellen: Photos, wenn möglich eigenhändig unterzeichnet, damit die Studenten den Menschen im Forscher sehen! Darf ich Sie freundlichst bitten mir diesen Wunsch zu erfüllen?

Und jetzt, verehrter Meister, zürnen Sie nicht dem, der weiter noch an die Zukunft des Genfer Affentheaters12 glaubt! Ihnen herzlich zugetan Ihr
Jud13

Und auch von meiner Frau herzlichen Wunsch!14


1 In seinem Brief 23 (17.12.1920) hatte sich Schuchardt nach dem Stand der Arbeiten erkundigt.

2 Vgl. PK 05209.

3 „Heu aus dem zweiten Grasschnitt“ (schweiz.).

4 Scheuermeiers Diss. Einige Bezeichnungen für den Begriff Höhle in den romanischen Alpendialekten; (Balma, Spelunca, Crypta, Tana, Cubulum); ein wortgeschichtlicher Beitrag zum Studium der alpinen Geländeausdrücke, Halle a. S.: Niemeyer, 1920 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie; 69).

5 Gemeint ist der AIS.

6 Heinimann: „Leben und Leiden“ (der Text ist jedoch eindeutig: „Weben und Leiden“).

7 Wendelin Foerster (1844-1915), österr.-dt. Romanist, zuletzt in Bonn; vgl. HSA 03092-03106.

8 Adolf Tobler (1835-1910), schweiz. Romanist in Berlin; vgl. HSA 11706-11727, in der Tat eine spannungsreiche Beziehung! Die Differenzen wurzeln u. a. in der unterschiedlichen Auffassung der Ausrichtung der Diez-Stiftung.

9 Friedrich Kluge (1856-1926), deutscher Germanist, seit 1893 in Freiburg i. Br.; ab 1902 erblindet, war er bei seiner Arbeit auf Hilfe angewiesen; vgl. HSA 05584-05651.

10 „murciélago“?

11 Schuchardt, Primitiae linguae Vasconum, Halle: Niemeyer, 1923; 2. Aufl.; eingel. und mit einer Bibliogr. vers. von Antonio Tovar, Tübingen: Niemeyer, 1968.

12 Gem. ist der Völkerbund; Schuchart hatte ihn ( Brief 33, 17.12.1920) so genannt; warum Heinimann stattdessen „des ganzen Affentheaters“ transkribiert, ist unverständlich, zumal er sich auf Schuchardts Brief bezieht.

13 Heinimann, 1992, Nr. 21, 31-32 (stark gekürzt)

14 Dieser Zusatz fehlt bei Heinimann.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05207)