Jakob Jud an Hugo Schuchardt (78-05204)

von Jakob Jud

an Hugo Schuchardt

Unbekannt

14. 04. 1920

language Deutsch

Zitiervorschlag: Jakob Jud an Hugo Schuchardt (78-05204). Unbekannt, 14. 04. 1920. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8558, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8558.


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14.IV 20

Verehrter Meister!

Ihre Sehnsucht nach unserem Lande begreife ich und fühle ich lebhaft nach: und wenn die Reise etwas bequemer und namentlich rascher sich vollzöge, hätte ich Sie gleich zu einem Besuche in die Schweiz eingeladen: wir würden es uns als große Ehre anrechnen, Ihnen diese Freude bereiten zu dürfen. Aber wir wagen an eine Realisierung nicht zu denken!

Mein Stillschweigen für ein paar Monate vermag ich nur dadurch zu erklären, dass ich Ihnen nun den Plan verrate, an dem Prof Jaberg und ich unermüdlich gearbeitet haben: es handelt sich um den Sprachatlas Oberitaliens und der rätischen Mundarten. Wir haben seit Jahren (1912) diesen Plan gehegt und ihn nie aus dem Auge verloren: jetzt ist er im Marsch. Das ganze Jahr 1919 arbeiteten wir an der Ausarbeitung des Questionnaire, an |2| der Ausbildung des Explorators, an der finanziellen Sicherung des Unternehmens für die ersten anderthalb Jahre. Nun ist die Arbeit geleistet: der Explorator, Herr Dr. Scheuermeier, ist seit dem 19. November 1919 unterwegs,1 die Aufnahmen (etwa 20) von Bündens Tälern sind bereits vorhanden, die Photos sachlicher Art sind erprobt und last not least: die finaziellen Mittel wenigstens bis auf den Betrag von 29 Mille gesichert. Zehn Mille davon ist uns durch den hiesigen Universitätsfond für wissenschaftl. Forschung dank des tatkräftigen Eingreifens von Gauchat gesichert worden. Der Explorater, Herr Dr Scheuermeier, ein Romanist von 32 Jahren, ist zuverlässig und von der Schönheit der Aufgabe durchdrungen: von Salvioni haben wir eine warme Empfehlung an die ital. Regierung zu Gunsten eines sauf-conduit für den Exploratoren erhalten; es ist Aussicht vorhanden, dass Hoepli den Verlag übernimmt.2

Das Stillschweigen über alle diese Vorbereitungen erklärt sich ja ohne Schwierigkeit daraus, |3| dass es uns beiden zuwider ist, über einen Plan zu sprechen und ihn darzulegen, bevor er in Ausführung begriffen ist. Und wir wünschen auch heute noch keine weite Öffentlichkeit, sondern stille unentwegte Arbeit im Dienste des Unternehmens, von dem wir uns für die italienische Sprachforschung neue Wege versprechen. Ihnen aber wollte ich das – wie auch Wagner3 – nicht länger vorenthalten, denn ich weiss, wie sehr Sie der Plan interessieren muss. Wir gedenken, am Nordrande Italiens je einige französische und deutsche Grenzmundarten heranzuziehen, um als Vergleichsobjekt zu dienen. Gilliéron schreibt mir, dass Saroïhandy4 für den baskischen Teil nun ebenfalls der Idee eines Atlasses nähertritt. Mir schwebt eigentlich als Abschluss meiner Lebensarbeit immer noch die Durchführung eines deutschschweizerischen Atlasses vor, der so ungemein interessant sein müsste: man wendet mir nur immer ein, das sei nicht Sache der Romanisten! |4| Ich laboriere immer noch am Problem von amblaz „Jochriemen“ herum: das gallische ambilattium will mich nicht loslassen5 und doch werde ich einer Schwierigkeit nicht Herr: die rätisch-deutschen Formen: umblaz amblaz usw. weisen strikte auf –tj–, die französischen Formen auf –ais, also entweder auf – acem oder –ascem (fais < fascem) oder auf –atiu (cf. Sarmaize < Sarmatia), auf –siu (pertuis) zurück: da keine Ableitungen im Altfrz. vorliegen, kann man sich über die Natur des –s kein rechtes Bild machen. Nun würde man aber von einem ambilattiu ein stimmloses ais zum mindesten erwarten, während nach Métivier, Dict. des Landes6 belegt ist: remoulade „corde servant à assujettir le joug“, das auf ein älteres rem(b)oulaze zurückzugehen scheint (d < z nach häufigem Beispiel in den Landes): aber ein remoulade ist weder mit – asiu noch mit –ascem, sondern nur mit –atja oder –acem zu vereinigen ( aguda < aguza, audé < auzé „Vogel“, radim < razim): aber wie ein stimmhaftes –z– aus einem gall. –ttj– zu erklären? Oder ist die Form remoulade eine ältere Entlehnung aus altwestfranzös. *amblaisɘ zur Zeit wo das aulaut. –u noch nicht gefallen war. Aber dann war aus –ttj– doch sicher stimmloses s geworden. Helfen Sie mir, verehrter Meister!

|5| Übermorgen wandere ich nach Bünden: mit Herrn Dr. Scheuermeier gedenke ich im Lugnez gemeinsam eine Aufnahme zu machen und später diese dreitägige Aufnahme zu publizieren: für jene, die so leicht bereit sind, anderen unrichtige Notierungen von Dialektformen vorzuwerfen, ist ein solcher Versuch bestimmt: er soll ein Beweis dafür sein, wie verschieden derselbe Laut und dieselbe Lautfolge zur selben Stunde und bei derselben Versuchsperson perzipiert wird. Dann marschiert Herr Dr. Sch. nach dem Tessin hinüber, wo er etwa 15 Aufnahmen machen wird, um, sobald der sauf-conduit eingetroffen ist, nach dem Piemont und Ligurien überzusiedeln. Das Questionnaire umfasst etwa 2500 Wörter und Sätze: wir hoffen nichts wesentliches ausgelassen zu haben. Neben diesem Normalquest. existiert ein erweitertes Questionn. mit etwa 5000 Wö. u. Fragen, die er auf seiner ganzen Reise an 20 Punkten abfragen soll. In Bünden ist dies im Münstertal und in Lenz (bei Thusis) geschehen. An jedem Ort soll er eine Anzahl Photos von Geräten aufnehmen, die als Bilderatlas einst veröffentlicht werden sollen. Das ist die teilweise Verwirklichung Ihrer Idee: Sprach- und Bilderatlanten!

|6| Die politischen Ereignisse der letzten Wochen sind nicht gerade erfreulich; es geht mir wie Ihnen: man kann niemandem Recht geben. Und doch bewahre ich kaltes Blut und sichere Zukunftshoffnung: die Menschen werden und müssen sich finden. Dass der Staat Oesterreich gerade noch die finanziellen Bocksprünge einer sozialist. Regierung über sich ergehen lassen muss, ist nicht gerade erfreulich.

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Aber nun genügt es: ich habe zu lange geplaudert und will mich befleissigen, das nächste Mal nicht so viel von mir zu berichten: le moi est haïssable!7

Warme Wünsche und stetes Gedenken!
Ihr ergeb.

Jud8


1 Paul Scheuermeier (1888-1973), Schweizer Romanist und Dialektologe (hls, online); vgl. auch HSA 10040-10043. Vgl. jetzt Aline Kunz (Hrsg.), Tra la polvere dei libri e della vita; il carteggio Jaberg-Scheuermeier 1919-1925 , Alessandria: Edizioni dell’Orso, [2018]. Hinweise auch bei Glauco Sanga, „ Un dibattito sulla geografia linguistica tra Jaberg, Jud, Scheuermeier et Gilliéron “, in: Anne-Marguerite Fryba-Reber et Pierre Swiggers, Karl Jaberg: Linguistique romane, géographie linguistique, théorie du langage, Leuven [u. a.]: Peeters, 2015 (ORBIS / Supplementa; 42), 125-135.

2 Der Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz wurde bei Ringier & Co. Zofingen gedruckt, aber von Niemeyer in Halle/S. im Programm geführt.

3 Max Leopold Wagner (1880-1962), deutscher Romanist, brach im November 1925 nach Sardinien auf, um die dortigen Aufnahmen für den Sprach- und Sachatlas durchzuführen. Er pendelte zu diesem Zweck von 1925-27 zwischen Insel und Festland hin und her und arbeitete den 2000 Wörter umfassenden Questionnaire in 20 Orten bei verschiedenen Einheimischen ab. Seine diesbezüglichen Briefe an Karl Jaberg sind auszugsweise publiziert: Siegfried Heinimann, „ Zur Entstehungsgeschichte des AIS: Aus den Briefen von Max Leopold Wagner an Karl Jaberg “, in: Festschrift für Johannes Hubschmid zum 65. Geburtstag. Beiträge zur allgemeinen, indogermanischen und romanischen Sprachwissenschaft, hrsg. von Otto Winkelmann, Bern: Francke, 1982, 451-466.

4 Jean-Joseph Saroïhandy (1867-1932), franz. Romanist und Baskologe; vgl. HSA 09942-09947.

5 Jud, „ Rätoromanisch umblaz, Bündnerdeutsch amblaz “, Bündner Monatsblatt 1921, 37-51.

6 M. le Vte de Métivier, De l’agriculture et du défrichement des landes , Bordeaux: chez Th. Lafargue, 1839.

7 Blaise Pascal.

8 Heinimann, 1992, Nr. 20, 30-31 (gekürzt).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05204)