Jakob Jud an Hugo Schuchardt (77-05203)

von Jakob Jud

an Hugo Schuchardt

Eisleben

20. 02. 1920

language Deutsch

Schlagwörter: Bovet, Ernest Jud, Jakob (1919) Schuchardt, Hugo (1919) Schuchardt, Hugo (1919) Schuchardt, Hugo (1920) Schuchardt, Hugo (1919) Heinimann, Siegfried (Hrsg.) (1992)

Zitiervorschlag: Jakob Jud an Hugo Schuchardt (77-05203). Eisleben, 20. 02. 1920. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8557, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8557.


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20.II.20

Verehrter Meister!

Prof. Bovet habe ich, seitdem ich Ihnen die letzte Karte zugestellt hatte,1 nicht sehen können: er liegt an der Grippe nieder, doch dürfte mein dringender Appell in Form eines Briefes nicht unerhört verhallt sein. Ich weiss, dass er diese Geschäfte weiter besorgen lässt und sein Bureaufräulein dürfte die notwendigen Orders erhalten haben. Hoffentlich haben Sie unterdessen die oder das Packet erhalten und auch das Butlleti de dialectologia catalana wie die Revista de filologia española. Darf ich Sie ferner noch bitten, mir Auskunft darüber zu geben, ob das Bulletin de la Société de linguist. wirklich wie bei Ihnen eingetroffen ist: Meillet hatte es so bestimmt für Sie in Aussicht |2| gestellt, dass ich immer noch nicht zu glauben wage, dass es nicht bei Ihnen eingetroffen sei. Wenn das Gegenteil der Fall sein sollte, so werde ich natürlich sofort das Weitere bei meinem Buchhändler anordnen.

Für Ihre lieben anerkennenden Worte herzlichen Dank:2 dass Sie stets noch weitere Perspektiven zu eröffnen vermöchten, ist ja selbstverständlich. Ich muss mich damit begnügen, ein kleines Lichtzentrum zu sein. Für Ihre beiden Aufsätze über den Sprachursprung3 habe ich Ihnen, glaube ich, noch gar nicht gedankt: ich bin da stets nur Lernender und freue mich, dass Ihnen stets aufs neue die Freude wird, Ihre abschliessenden Anschauungen und neu anregenden Ausblicke zu Papier zu bringen und zu fixieren. Was Sie über die Rückprojizierung der im heutigen sprachlichen Leben wirkenden Kräfte in die Vergangenheit sagen, findet meine |3| volle Billigung: man wird nie vorsichtig genug sein können bei der Übertragung des heutigen Kräfteparallelogrammes auf die Vergangenheit. Aber anderseits halte ich doch dafür, dass die „paläontologische“ Sprachbetrachtung noch sehr viel von der Einsicht in das Wesen der heutigen sprachlichen Vorgänge zu lernen hat: ich denke z. B. an Gilliérons Arbeiten, die m. E. für die ganze Anschauung von gesprochenem Latein und geschriebenem neue Ausblicke eröffnen. Wir sind von der indogermanischen Sprachforschung noch viel zu sehr an Statistik gewöhnt. Sie und Gilliéron haben stets nicht den einzelnen Faden, sondern das Gewebe untersucht. Aber das Gewebe ist in seinem Muster nur heute besser erkennbar: zerfetzt und von Motten zerfressen starrt und dasjenige der vergangenen Zeiten entgegen. Daher hätte ich eigentlich gerne den Mahnruf an die Petrefaktenforscher deutlicher noch formuliert, als Sie es für richtig hielten.

|4| Trombettis Forschungen4 zu verfolgen bin ich leider ausser Stande: er operiert mit zuvielen Unbekannten und mit zu reichlichen vorgefassten Meinungen. Mich stösst seine etwas selbstsichere Art ab: aber vielleicht tue ich ihm Unrecht. Urtel hat mir neulich seine Arbeit zugestellt: aber in seinen Zeilen stand nichts von Ihrer Rezension,5 die mir übrigens durchaus wohlwollend scheint. Dass er stets etwas rasch zu urteilen und zu schliessen geneigt ist, wird bei seiner ganzen Anlage und Forschungsnatur nicht weiter verwunderlich sein: er hat ein so neues und ertragreiches Arbeitsfeld entdeckt, dass er vor Freude gar nicht weiss, wo er es in Angriff nehmen soll. Aber mich freut doch stets seine nimmermüde Begeisterung für die wissenschaftlichen Entdeckungen.

Die engadinischen Briefe, die Sie mir in Aussicht stellen, sind noch nicht eingetroffen.6 Was gedenken Sie, verehrter Meister, |5| für Ihren grossartigen Briefwechsel mit den führenden Gelehrten zu tun? Hoffentlich anvertrauen Sie diese Dokumente einem gut geleiteten Archiv mit der Bestimmung, dass nicht jeder nach Belieben darin schnüffeln kann.

Frau Nedwed übermittelte mir vor wenigen Wochen ein Verzeichnis der ihrem Sohne gehörigen Bücher mit der Bitte, einige als Andenken auszuwählen. Also ist wohl jede Hoffnung auf Rettung endgültig verloren!7 Von Frau Prof Cornu habe ich zwei längere Briefe erhalten: über die Bibliothek scheinen keine Dispositionen des verehrten Gelehrten vorzuliegen. Mir ist doch manches im Leben Cornus rätselhaft: seine ganze Familiengründung ist mir ein grosses Problem. Wenn es möglich ist, würde ich gerne einmal seinen Bruder in Vevey aufsuchen, um tiefer hineinzuschauen. Er war mir so lieb und ich fühlte zu ihm |6| so warme Sympathie, dass es mich heute arg reut, ihn nicht stärker zum Reden über seine Vergangenheit veranlasst zu haben. Ihre Beiträge zur Charakteristik Cornus haben mich sehr interessiert: ist übrigens ein Nachruf auf ihn in den Grazerblättern erschienen? Wäre es möglich ihn zu erhalten.8 Lassen Sie, bitte, Herrn Prof Pogatscher warm grüssen.

Ihnen wünsche ich gute Genesung, damit ich bald wieder von Ihnen tröstliche Nachricht erhalte!

Mit herzl. Gruss verbleibe
Ich Ihr

Jud9


1 PK 05191.

2 „Sch. hatte sich offenbar anerkennend geäussert über Juds Rezension der Romanischen Lehnwörter im Berberischen; der Brief ist nicht erhalten“ (Heinimann).

3 Sprachursprung I u. II“, SB Berlin 1919, Bd. 39, 716-720; Bd. 45, 863-869. Teil III ist erst 1920 erschienen.

4 „Im ersten Teil seiner Berliner Akademieschrift von 1919 […] setzt sich Schuchardt kritisch auseinander mit ALESSANDRO TROMBETTI, L’unità d’origine del linguaggio (1905) und lehnt dessen einseitig monogenetische Auffassung ab“ (Heinimann).

5 Schuchardt, „ [Rez. von:] Hermann Urtel, Zur baskischen Onomatopoesis“, Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 40, 1919, 397-406.

6 Vgl. Brief (12.12.1919).

7 Der Grazer Romanisikstudent Walter Nedwed war 1916 gefallen; vgl. 05163 u. ö.

8 Der umfangreiche Briefwechsel Cornus mit Schuchardt ist im HSA einsehbar und beantwortet einige der von Jud hier angesprochenen Desiderate.

9 Heinimann, 1992, Nr. 19, 28-29 (gekürzt).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05203)