Hugo Schuchardt an Jakob Jud (67-HSJJ19)

von Hugo Schuchardt

an Jakob Jud

Graz

31. 10. 1919

language Deutsch

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Jakob Jud (67-HSJJ19). Graz, 31. 10. 1919. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8547, abgerufen am 19. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8547.


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Graz, 31 Okt. 1919

Lieber Freund!

In allen den letzten Tagen wollte ich Ihnen den Schluß meiner mehr an Tobler anknüpfenden, als sich auf ihn beziehenden Mitteilungen zuschicken; aber mein Kopf war zu dumpf und apathisch und meine Hände so kalt daß ich kaum ein Buch zum Lesen halten und die Feder führen konnte.1 Nun kam aber vorgestern Abend La faillite in meine Hand,2 deren ich mich sofort bemächtigte und ich sah es als meine Pflicht an Ihnen sofort dafür zu danken. Es ging aber wiederum nicht. Heute wag ich den Versuch. |2| Ich danke Ihnen vielmals für das Geschenk, es hat mir große Freude bereitet, obwohl der Titel mich nicht Besseres, aber doch wesentlich anderes erwarten ließ. Warum nicht etwa La guerre des verbes oder noch treffender La tauromachie des verbes? Da blitzt und funkelt es ja nur so, die Verben stoßen mit gesenkter Stirn aufeinander, wälzen sich am Boden, und die Teilnahme der Zuschauer spiegelt sich in zahlreichen Ausrufungs- und Fragezeichen wieder. (Freilich finden sich neben diesen affektischen Sätzen auffallend viele recht schwere, die vielleicht mancher Franzose als tudesque bezeichnet). Ich bin ein Freund von allem Individuellen, auch wenn es – was ja eigentlich schon |3| im Worte liegt – meiner eigenen Art widerspricht. Ich selbst bin sehr für Verlebendichung; nur scheint mir der übergroße Bilderreichtum die Erreichung des Ziels einigermaßen zu beeinträchtigen. Wäre nicht ein wenig Salz der Nüchternheit (es brauchen ja nicht gleich „Apperzeptionen“ u. dgl. zu sein) gut gewesen? und wie viel gedrängter hätte alles sein und umso besser wirken können! Was die Einzelheiten betrifft, so bin ich, auch in dem Bienenbuch,3 noch nicht ganz in die Tiefe gedrungen, ich glaube aber es wird mir an der Kompetenz fehlen zu widersprechen). Bei fermez möchte ich immerhin bemerken daß nur die französische Bedeutungsentwicklung in Schweden aufgegangen ist, als ich an gewissen Geschäften las, sie seien „gestangt“ d. i. geschlossen. In der Tat enstpricht schwed. stänga dörren durchaus |4| dem franz. fermez la porte. In der allgemeinen Richtung gehe ich mit G. zusammen. Was er z.B. S. 63 sagt, habe ich mit andern Worten (von pathologie und thérapeutique4 würde ich in keinerlei Sinn reden) geäußert, es gäbe wenig Wörter die sich streng auf dem Wege der phonetischen Tugend gehalten haben; die Ausnahmen bestätigen nicht nur die Regel, sie bilden selbst die Regel. Beleg für meine Stellung zu G. anbei. Es ist ein Stück von einem Aufsatz von mir über „Sprachursprung“ der in zwei Hälften etwa ein Dutzend Seiten umfasst.5 Sonderabzüge habe ich noch nicht; erwarten Sie aber nichts Besonderes. Ich habe – es lag mir das Gebiet gerade nahe, da meine Augen nicht mehr in alle Winkel und Ritzen eindringen können – erproben wollen ob das Problem in äußerster Zusammengepreßtheit nicht an Klarheit gewänne. – So, nun schreibe ich noch ein paar Zeilen an Wartburg (was ist er denn in Aarau?).6 Cornu ist, wie ich zufällig höre, schon seit längerer Zeit zurückgekehrt, nach Leoben; er soll leidend sein (er war es nie gewohnt krank zu sein). – Grüßen Sie die beiden andern Blätter der Zürcher Romanistik von mir; das Sekretariat von W. u. L. scheint Bovets Auftrag vergessen zu haben, mich mit der Zeitschrift zu bedenken. Ich habe oben von meinen kalten Händen gesprochen; ich will nun, nicht bloß des Korrelats halber, schließen.

Mit warmem Herzen Ihr
H. Sch.


1 Die Fortsetzung zu Tobler findet sich erst in Brief 20 (10.11.1919).

2 Jules Gilliéron, La faillite de l'étymologie phonétique; résumé de conférences faites à l'École pratique des hautes études. Étude sur la défectivité des verbes, Neuveville: Beerstecher, 1919.

3 Gilliéron, Généalogie des mots qui désignent l'abeille; d'après l'atlas linguistique de la France, Paris: Champion, 1918 (Bibliothèque de l'Ecole des Hautes Etudes / Sciences historiques et philologiques; 225).

4 Jules Gilliéron, Pathologie et thérapeutique verbales, Paris: Champion, 1921. Es handelt sich um mehrer Artikel, die diesem Obertitel zugeordnet sind.

5 Schuchardt, „ Sprachursprung I“, Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften 1919, 716-720; „ Sprachursprung II“, ebd. 863-869.

6 Wartburg war von 1919-28 zwar Zürcher Privatdozent, verdiente aber seinen Lebensunterhalt als Lehrer an der Kantonsschule Aarau.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Jaberg-Archiv, Universität Bern (Institute für Romanische Sprachen und Literaturen und Jaberg-Bibliothek). (Sig. HSJJ19)