Hugo Schuchardt an Jakob Jud (66-HSJJ18)

von Hugo Schuchardt

an Jakob Jud

Graz

24. 10. 1919

language Deutsch

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Jakob Jud (66-HSJJ18). Graz, 24. 10. 1919. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8546, abgerufen am 19. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8546.


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G. 24.10.‘19

Lieber Freund,

Tag für Tag setze ich mich hin um Ihnen die längst schuldige Auskunft über meine Beziehungen zu Tobler zu geben, und immer wieder sinke ich auf das daneben stehende Ruhebett nieder. Ich kann nämlich jene Beziehungen nicht zur Sprache bringen ohne Beifügung eines Kommentars, der mir gar zu ausführlich zu werden drohte. Nun will ich mit diesem, dem dicken Ende beginnen und sehen wie weit ich komme. – Ein äußerer Umstand hat mir die Feder heute in die Hand gedrückt. War[t]burg schickt mir eben eine |2| Druckprobe seiner großen Arbeit über den französischen Wortschatz1 – den Titel hat er mir nicht angegeben – und bittet mich um ein Gutachten. Ich bin zu einem solchen soweit es das Einzelne betrifft, kaum fähig; ich muß die Dinge mit der Lupe ansehen, die Übersicht ist mir erschwert. Ich habe aber einen sehr günstigen Eindruck erhalten und was den Plan anlangt, so würde ich für den angenommenen stimmen, obwohl Sie wie es scheint, andern Rat gegeben haben. Das ist vielleicht ein Kernpunkt der uns überhaupt trennt. Ich meine daß das was man selbst gefunden hat, immer mehr wert ist als das an sich vollkommenere das fremdem Gehirn entsprungen ist. Adaptierung der Hausinschrift: Parva, sed mea.2 Die Erfahrung – siehe weiter unten – hat mir diese Ansicht eingehämmert. Es kommt doch |3| Alles darauf an, daß der Einzelne nicht bloß dem Ganzen überhaupt nützlich wird, sondern daß er durch seine Eigenart wirkt. [Und ebenso muß er mit einem Volke sein. Deshalb kann ich die Entvolklichung der Meinigen nicht verschmerzen. Es sei ja einerlei, der Deutsche könne auch wenn er taliener, Franzose, Tscheche, Pole würde, ebenso Großes und Gutes wirken, mit andern Worten, die mir aber immer sehr mißtönend vorkamen, Kulturdünger werden. Nein, dem Ubi bene, ibi patria3 ist nicht zu huldigen, das ist kein Ideal].

Als ich mich im Frühjahr 1870 in Leipzig habilitierte, schien zunächst alles gut zu gehen: Probevorlesung usw. Bald aber fühlte ich, daß ich meinem Berufe nicht im entferntesten gewachsen war und das hat sich auch in meiner ganzen „aktiven“ Zeit nicht ausgeglichen. Das verhält sich so. Ich habe von Kindheit an mit meinen Nerven zu tun |4| gehabt, ohne in dieser Hinsicht vonseiten meiner Eltern belastet zu sein; ich habe wenige Stunden in meinem langen Leben gehabt, in denen ich mich ganz wohl gefühlt hätte, ich lag mit meinen Nerven in beständigem Kampf und wegen ihrer mit der Umwelt. Ich werde Sie nicht mit einer Krankheitsgeschichte langweilen. Sie wissen aber vielleicht daß als Hauptkennzeichen der Neurasthenie – in meiner Jugend kannte man den Ausdruck wohl kaum, da gab es nur malades imaginaires – die leichte Ermüdbarkeit angesehen wird. Diese anscheinende Kleinigkeit ist mir zur Qual geworden. Ich hielt mich gerade für Vorlesungen wie geschaffen; ich besaß gute Stimmmittel, liebte es zu deklamieren und zu schauspielern – nahm sogar eine Zeit lang bei einem Schauspieler Unterricht – es fehlte mir nicht an Schwung usw. Aber ich hatte es noch nie versucht, dreiviertel Stunden hintereinander zu sprechen. Ich bemerkte nun daß ich das Bedürfnis |5| hatte, nach kurzen Zeiträumen mich sekundenlang auszuruhen, und daß ich diesem Bedürfnis nicht nachkommen durfte. Es ließ sich nur ermöglichen bei schriftlicher Vorlage, indem ich dann ein paar Worte ohne jede Gedankenbegleitung sprach. Das summierte sich aber zu einer Herkulesarbeit, sodaß ich am Schluß einer Vorlesung ganz erschöpft und betäubt, ja geradezu unfähig war, an demselben Tage etwas Anderes zu arbeiten. Wenn ich etwas Katzenjammer hatte, was ja zuweilen vorkam, so ging es besser; ich sprach dann etwas matt und gleichgültig die ganze Zeit hindurch. Ich glaubte eine Zeitlang ich würde mich abrichten können; es ist im Wesentlichen bis zum letzten Augenblick dasselbe geblieben. Allerdings kam eines dazu, was ja nicht durchaus mit dem andern verbunden sein mußte: die fortwährenden Angstzustände, an denen ich von Jugend auf gelitten habe. So nahm denn das auch in weiteren Kreisen bekannte Kathederfieber bei mir eine geradezu grauenhafte Gestalt an. |6| Im Winter 1870/71 wurde es mit meinen Nerven immer schlimmer, aber ohne daß der Krieg dabei mitgewirkt hätte; ich mußte - ein schöner Anfang – gleich auf ein Jahr Urlaub nehmen, und erholte mich dann in Waldeseinsamkeit einigermaßen. Ich war keineswegs geistes- oder gemütskrank; nur hatte ich eine Angst vor dem Zusammentreffen mit fremden oder überhaupt mit vielen Menschen, besonders beim Speisen. Ich konnte nicht mit meinem Vater zusammen essen, brachte aber gerade während dieser schlimmen Zeit meine 60 Seiten Albanisches und Romanisches fertig.4 Ich entsinne mich noch sehr gut, wie ich Hahns Alb. Wörterbuch in den Händen,5 von Zeit zu Zeit es sinken liessen, wobei mir die Gedanken vorgingen, und dann es wieder aufnahm. Im Frühjahr 1872 quartierte ich mich in Gohlis ein (dem Haus gegenüber, in welchem Schiller das Lied an die Freude dichtete); unter mir wohnte |7| Otto Henne am Rhyn mit seiner Frau,6 mit denen ich aber nur in oberflächliche Berührung kam. Die Tage vor meiner ersten Vorlesung nach dem Interregnum, war ich von unbegreiflicher Angst erfüllt; ich schritt dann wie zum Schaffot – es ging. Wiederholt hätte ich aber den Versuch nicht. Von 1873-1876 war ich Ordinarius in Halle; aber im Sommersemester 1876 wegen meines Gesundheitszustandes wiederum beurlaubt. Im Herbst 1876 ging ich nach Graz.

Meine Beziehungen zu Tobler.

I. Ich hatte an Tobler geschrieben, er möge sich wenn der Lehrstuhl für rom. Phil. in Straßburg besetzt werden sollte, für mich verwenden. Er antwortete mir (Nov. 1870) freundlich und einigermaßen hoffnungsvoll. Man suchte übrigens neben einem Linguisten noch einen Mann für einen zweiten Lehrstuhl (franz. Lit.), man dachte an Karl Hillebrand. |8| Im Jänner ein Brief von Tobler der nun mit Roggenbach Rücksprache genommen hatte, im wesentlichen desselben Inhalts. Im Herbst 1872 ein dritter Brief; Tobler hatte sich, von Halle aus (Böhmer war von dort nach Straßburg berufen worden) um Vorschläge angegangen, über Stengel (der als Getreuer Böhmers und als Hallenser zunächst in Betracht kam), über mich und über Gröber geäußert. Ich machte dann auf Anraten maßgebender Persönlichkeiten – aber durchaus nicht zu meinem Vergnügen – Besuche bei einer Reihe von Hallenser Professoren und wurde dann, wenn ich nicht irre mit großer Mehrheit dem Ministerium vorgeschlagen.

(Schluß folgt: Diezstiftung u. A.).


1 Französisches etymologisches Wörterbuch, eine Darstellung des französischen Wortschatzes, Leipzig: Teubner, 1922 f. Vgl. Wartburg an Schuchardt, HSA 12624-12632 und Pierre Swiggers, „Lumières épistolaires sur l'histoire du F.E.W. Lettres de Walther von Wartburg à Hugo Schuchardt“, Revue de Linguistique Romane 54 (215/216), 1990, 347-358. – Hier Brief 3 (18.9.1919): „Herr Jud wollte mich überreden, das ganze in form eines atlas zu geben. Doch kann ich mich nicht dazu entschliessen, weil in einer solchen form lange nicht alles untergebracht werden kann; weil sie für alle begrifflich feinern nüancen ein prokrustesbett ist, und weil ich glaube, dass es für die Sprachwissenschaft ein grösserer gewinn ist, wenn der Stoff unter einem andern aspekt gezeigt wird als unter dem gleichen nochmals. M.e. würde eine publikation in atlasform es ungemein erschweren, wieder einmal über die grossartige einseitigkeit Gilliérons hinauszukommen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich mir gegenüber auch über diese frage äussern wollten“ (Briefende).

2 „Es mag zwar klein sein, aber es gehört mir“.

3 Pacuvius zugeschrieben: „Wo es dir gut geht, da ist deine Heimat“.

4 Schuchardt, „ Albanisches und Romanisches“, Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiete des Deutschen, Griechischen und Lateinischen 20, 1872, 241-302.

5 Johann Georg von Hahn (1811-1869), Albanologe; ein Wörterbuch unter seinem Namen ist nicht bekannt; vermutlich meint Schuchardt seine dreibändigen Albanesischen Studien (Jena 1854).

6 Otto Henne am Rhyn (1828-1914), Schweizer Publizist und Kulturhistoriker, verh. mit Elisabeth am Rhyn.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Jaberg-Archiv, Universität Bern (Institute für Romanische Sprachen und Literaturen und Jaberg-Bibliothek). (Sig. HSJJ18)